Als sich der Herbst schon ankündigt, wird es an einem Septemberwochenende im „Hambi“ nochmal sommerlich heiß. „Ich möchte mir ein eigenes Bild von der Lage machen und zeigen, dass es mir in der Sache wichtig ist, etwas zu tun!“, erzählt mir eine Demonstrantin aus Witten. Sie und Tausende Menschen versammeln sich zur Mittagszeit am Bahnhof Buir, um einen „Waldspaziergang“ zu machen und Bäume zu pflanzen. Denn nach den derzeitigen Plänen des Energiekonzerns RWE, dem der Wald gehört und der über die Lizenz zum Roden verfügt, soll auch das letzte noch verbliebene 200 Hektar große Stück Wald von den einstmals 4100 Hektar abgeholzt werden. Kinder tragen Schilder mit Aufschriften wie „Der Wald gehört uns allen, nicht RWE!“ und im Chor wird immer wieder „Der Hambi bleibt“ gerufen. Bunte Flaggen für den Klimaschutz, Seifenblasen und Musikinstrumente schmücken das Bild der TeilnehmerInnen. Sie solidarisieren sich mit den BewohnerInnen im Wald, deren Baumhäuser nun – angeblich aus Brandschutzgründen – geräumt werden. Gemeinsam möchten die DemonstrantInnen ein Zeichen gegen das Rodungsvorhaben von RWE und für den baldigen Kohleausstieg setzen. Denn angesichts des weltweiten Temperaturanstiegs versteht niemand mehr, warum ausgerechnet die klimaschädliche Braunkohle weiter abgebaut werden soll.
Beeindruckend ist die Geduld, mit der sich die stetig wachsende Gruppe organisiert. Verschiedene SprecherInnen kommen zu Wort, bevor der Spaziergang startet. Der Vorsitzende des Anti-Atomkraft-Bündnisses betont, der Hambacher Forst bleibe, selbst wenn die Rodung stattfinden sollte, im Bewusstsein der PolitikerInnen und der Bevölkerung und werde weiter einen Beitrag zum Klimaschutz leisten.
Unübersehbar ist der Konflikt um den Hambacher Forst in den vergangenen Wochen in den Medien geworden. Er wirft alte und neue Fragen auf: Wie schnell kann auf erneuerbare Energien umgestellt werden und wie soll der Strukturwandel stattfinden? Wie ist es zu bewerten, dass RWE nicht von den Rodungsplänen abweicht? In der öffentlichen Diskussion irritiert, dass RWE roden will, bevor die von der Bundesregierung eingesetzte Kohlekommission ihrem Auftrag nachkommen kann, einen Termin für den Kohleausstieg festzulegen und über die Stilllegung weiterer Kraftwerke zu entscheiden. Der BUND warnt vor der Tendenz, den „gesellschaftlichen Konsens“ auf politischer Ebene zugunsten wirtschaftlicher Vorteile für RWE „zu übergehen“. Besonders eklatant sind Bilder über Auseinandersetzungen zwischen AktivistInnen und PolizistInnen, die inzwischen die sozialen Netzwerke füllen. In Videos sprechen emotional aufgewühlte WaldbeschützerInnen über ihre Motivation. Ihnen geht es nicht nur um den Wald, sondern darum, eine alternative Form des Zusammenlebens zu pflegen – hierarchiefrei, bedürfnisorientiert und basisdemokratisch.
Ich selbst erlebe die Stimmung vor Ort als friedlich, achtsam und entspannt. Familien, erfahrene AktivistInnen, Neugierige und Hoffnungsvolle spazieren gemeinsam über die Brücke, unter der gerade ein Braunkohlezug durchfährt. Unterwegs spaltet sich die Demonstration spontan in zwei Gruppen. Der eine Teil verfolgt weiterhin die Route des offiziell angekündigten Waldspaziergangs, während sich einige geradewegs auf den Wald zubewegen. Auch wir schließen uns diesem Zug an. Wir laufen bis zur Grenze eines staubigen Feldes, das zwischen dem Wald und uns liegt. Hier stehen wir gute zwei Stunden den PolizistInnen gegenüber, zwischen uns nur ein kleiner Graben, der eine Art Gefahrenlinie markiert. In dieser angespannten Situation kommen unmittelbar Fragen in uns auf: Wie viel Mut erfordert jeder weitere Schritt, der bedeuten würde, durch die Polizeikette hindurchzugehen? Nach und nach gelingt dieser Schritt immer mehr DemonstrantInnen, die bis in den Wald hineinsprinten. Wir bleiben stehen und hören den Konzerten mit Saxophon und Geige im Graben zu, die gleichzeitig stattfinden. Was bringt es der Sache, jetzt in den Wald zu gehen? Könnte dieser Tag wirklich zur Entscheidung beitragen, den Wald stehen zu lassen? Wäre das überhaupt ein sinnvoller Erfolg? Viele rufen den PolizistInnen zu: „Es gibt ein Recht auf Dienstverweigerung!“ und wünschen sich, dass die BeamtInnen davon Gebrauch machen. In diesem mauergleichen Szenario endet unser Spaziergang. Fraglich ist, welche Spur nach diesem Tag die größere ist: die, die wir vor Ort hinterlassen oder diejenige, die der Tag in uns hinterlässt.
Ein wichtiger Aspekt der Aktion ist die vielseitige Vernetzung, die zahlreiche Türen öffnet, sich zu engagieren. Ein Demonstrant, der sich ein Bild von der Situation im Wald gemacht hat, berichtet hinterher von der verzweifelten und traurigen Stimmung. Ein großes Problem sei die mangelnde Pressepräsenz. Tragend war aber die Solidarität. Die Menschen aus allen Altersgruppen sprechen verschiedene Sprachen und zeigen sich zwanglos hilfsbereit. Im Nachklang bleibt bei ihm das Gefühl großer Dankbarkeit, auch für alle Sachspenden, darunter ein paar große Demeter-Brote, die jemand mitgebracht hatte. Während die AktivistInnen im Wald große menschliche Unterstützung erfahren, laufen die eigentlichen Verhandlungen andernorts. Der Schauplatz verlagert sich zunehmend nach Berlin. Der Hambacher Forst aber wird ein Symbol im kollektiven Klimabewusstsein bleiben. Wie es ein Demonstrant sagte: „So oder so, das hier führt zu persönlichem und gesellschaftlichem Umdenken.“