Die RKI-Protokolle: Wie Politik die Wissenschaft beeinflusste

Das Robert Koch Institut in Berlin-Wedding. Foto: A. Savin/Wikipedia

Am 23. Juli veröffentlichte eine Gruppe um die freie Journalistin Aya Velázquez alle Sitzungsprotokolle des Krisenstabs am Robert-Koch-Institut aus den Jahren der Corona-Pandemie. Die Dokumente zeigen, wie die Politik erheblichen Einfluss auf das beratende Institut ausübte und Bedenken hinsichtlich Wirkungen und Nebenwirkungen zahlreicher Pandemiemaßnahmen unter den Tisch fallen ließ.

Nachdem das deutsche Handeln in der Corona-Pandemie nach wie vor weder politisch noch wissenschaftlich aufgearbeitet wurde, hat Ende Juli ein ehemaliger Mitarbeiter oder eine ehemalige Mitarbeiterin des Robert-Koch-Instituts, das die Bundesregierung während der Pandemie maßgeblich beriet, interne Dokumente an eine freie Journalistin herausgegeben – die sogenannten „RKI-Files“. Dabei handelt es sich um die komplett ungeschwärzten Protokolle des Stabs, der mit der Pandemiebekämpfung beauftragt war, rund 4000 Seiten umfassend. Sie belegen, was aufmerksame Beobachter und nicht involvierte Wissenschaftler von Anfang an sagten: Die politisch verordneten Coronamaßnahmen waren häufig wissenschaftlich umstritten, es gab Argumente dafür und dagegen, für Nutzen und Schaden. Die angeblich eindeutigen und alternativlosen Empfehlungen „der Wissenschaft“ waren eine Erfindung der Politik, die nicht selten sogar vorgab, was sie sich von der dem Bundesgesundheitsministerium unterstellten Behörde wünschte.

Die angebliche „Pandemie der Ungeimpften“

Die größten und nachhaltigsten Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft hatte sicher der Umgang von Politiker:innen und Medienschaffenden mit den Menschen, die sich während der Pandemie nicht gegen das Virus impfen lassen wollten. Im Herbst des Jahres 2021 vom damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn geprägt, wurde der Begriff „Pandemie der Ungeimpften“ schnell Sinnbild für das angeblich unsolidarische Verhalten der sogenannten „Impfgegner“ – eben sie sollten nach fast einhelliger Meinung in Politik und Medien dafür verantwortlich sein, dass die Pandemie zu keinem Ende fand und Menschen ohne Not sterben mussten. Es folgten Betitelungen wie „Tyrannei der Ungeimpften“, man sprach von „Bekloppten“ und „Verfassungsfeinden“ – für viele eine schwere Zeit.

Im Protokoll des Robert-Koch-Instituts vom 5. November 2021 ist nun für alle Erstaunliches nachzulesen: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden? (…) Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.“ Das RKI erörtert detailliert den immunologischen Prozess, den die Impfungen auslösen, und kommt zu folgendem Schluss: „Dementsprechend können sich Geimpfte > 2 Monate nach Impfung auch wieder leichter infizieren. Die Erwartung ist, dass die meisten Geimpften nicht oder nur leicht symptomatisch sind, dass sie aber durchaus hohe Viruskonzentrationen im Nasen-/Rachenraum aufweisen und kontagiös sind.“

Sogar der Chef-Berater der Regierung, Christian Drosten, kommentierte in der Zeit vom 10. November 2021 den Stand der Wissenschaft mit diesen Sätzen: „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften. (…) Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen – auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.“

Mit Blick auf diese Tatsachenlage und die angespannte gesellschaftliche Situation zu jener Zeit verwundert es schon sehr, dass das Robert-Koch-Institut den entbrannten Diskurs nicht entschärfte. Dazu heißt es im Protokoll vom 5. November 2021 lapidar: „Kommunikation kann nicht geändert werden. Würde große Verwirrung hervorrufen.“

2G- und 3G-Maßnahmen

Auch die 2G- und 3G-Maßnahmen im Winter 2021/2022, also die Gewährung von Zutritt nur für gegen das Virus Geimpfte oder vom Virus Genesene (2G) bzw. zusätzlich noch für negativ Getestete (3G) fußten auf der Annahme, dass geimpfte und genesene Menschen für einen langen Zeitraum nicht an der Pandemieausbreitung teilhaben würden. Der bekannte Virologe Alexander Kekulé bemängelte bereits Mitte November 2021: Das 2G-Modell sei „Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Die Menschen, die geimpft oder genesen sind, glauben, sie wären sicher.“ Da sich jedoch auch Geimpfte und Genesene mit dem Virus infizieren können, müsse man sogar von einer „unsichtbaren Welle“ sprechen, so Kekulé in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am 16. November 2021.

Es ist nicht schwer zu sehen, dass die G-Regeln Impfdruck auf die Bevölkerung ausüben sollten. Eine wissenschaftliche Basis hatten sie nicht. Das RKI am bereits oben erwähnten 5. November 2021: „Ist 2G oder 3G noch ein Schutzkonzept, das empfohlen werden kann?“

Maskenpflicht, Kinderimpfungen und Schulschließungen

Auch zu den verschiedenen Maskenpflichten, der Impfung von Kindern und der Schließung von Schulen finden sich in den Besprechungsprotokollen zahlreiche Bedenken der RKI-Wissenschaftler:innen, die nun erstmals ans Licht kamen. So heißt es zum Beispiel im Protokoll vom 21. Oktober 2020: „Kritisch diskutiert wird Maskenpflicht für Grundschüler, evtl. Langzeitfolgen.“ Am 30. Oktober 2020 wird eingewendet: „FFP2-Masken sind eine Maßnahme des Arbeitsschutzes. Wenn Personen nicht geschult/qualifiziertes Personal sind, haben FFP2 Masken bei nicht korrekter Anpassung und Benutzung keinen Mehrwert. (…) es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes, dies könnte auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. (…) Für gesunden jungen Menschen ist passende FFP2-Maske wegen des erheblichen Atemwegwiderstandes unangenehm zu tragen, dies ist Pflegeheimbewohnern nicht zuzumuten.“

Zu den Bedenken gegenüber Impfung von Kindern und der Wirkung von Schulschließungen auf den Pandemieverlauf seien folgende Passagen aus den RKI-Protokollen exemplarisch erwähnt: „Pädiatrische Fachverbände stehen der Impfung von Kindern zurückhaltend gegenüber. Politik bereitet bereits Impfaktionen vor, damit die entsprechenden Jahrgänge zum Ferienende geimpft sind. Frage der Equity – in vielen Regionen der Welt fehlen Impfstoffe, hier werden Gruppen ohne/mit sehr geringem Risiko geimpft.“ (21. Mai 2021) Außerdem wurde festgestellt: „Zurzeit ist auch eine Booster-Impfung von Kindern aus ministerieller Seite angedacht, obwohl dazu keine Empfehlung und teils keine Zulassung besteht.“ (15. Dezember 2021)

Auch hieß es ganz klar: „Schulen, Kitas stehen nicht im Vordergrund, Kinder keine wichtigen Glieder in Transmissionsketten.“ (26. Februar. 2020, zu Erkenntnissen aus China) Und: „Schulschließungen haben vermutlich keinen großen Einfluss auf die Kontrolle der Epidemie gehabt.“ (24. April 2020) Außerdem riet man: „Jedoch muss der Meinung, dass Schulen und Kinder Superspreader sind, entgegengetreten werden.“ (3. August 2020).

„Geheimtreffen“ mit Einfluss auch auf Medien?

Ein weiteres spannendes Insight gewährt FDP-Vize Wolfgang Kubicki in einem Beitrag auf seiner Webseite, mit dem er Anfang August auf die Veröffentlichung der RKI-Dokumente reagierte: „Ferner verriet mir Lauterbachs Staatssekretärin – allerdings auch erst auf hartnäckige Nachfrage –, dass es im Juni 2020 eine Art Geheimtreffen mit mehreren Bundesministerien und dem Regierungssprecher Seibert einerseits sowie Vertretern unter anderem von YouTube, Facebook, der Correctiv gGmbH und der Amadeu-Antonio-Stiftung andererseits gegeben hat. Bedauerlicherweise gäbe es hierüber keinerlei Aufzeichnungen, erklärte man mir. Es ging in diesem Gedankenaustausch aber um die Abwehr von Desinformation.“ Bis dato galt als Verschwörungstheoretiker:in, wer ein solches Treffen für möglich gehalten hatte, bei dem sehr wahrscheinlich die Politik unmittelbar auf Inhalte in den Medien Einfluss genommen hat.

Impfpflicht oder Pandemieende?

Der Dissens zwischen den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und den Entscheidungen der Politik setzte sich bis zum Ende der Pandemie fort: Nach ziemlich genau zwei Jahren trat die mildere Omikron-Variante auf, die sehr viel weniger als die ersten Varianten zu schweren Lungenentzündungen und damit Belastungen für die Krankenhäuser führte. Während manche Expert:innen auf den Segen des mutierten Virus und das sich ankündigende Pandemieende hinwiesen, ließen viele Politiker nicht von der Forderung nach einer Impfpflicht für alle oder zumindest für Ältere ab.

Auch das RKI erkannte die veränderte Gefahrenlage. So lesen wir im Protokoll vom 9. Februar 2022 zum Thema Risikobewertung: „Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist abhängig von der Zustimmung des BMG (Bundesministerium für Gesundheit, Anm. d. Red.), voraussichtlich nicht vor der MPK am 16. Februar 2022. Eine Herabstufung vorher würde möglicherweise als Deeskalationssignal interpretiert, daher politisch nicht gewünscht.“ Wenige Tage später, am 25. Februar, gibt der Krisenstab zu Protokoll: „Reduzierung des Risikos von sehr hoch auf hoch wurde vom BMG abgelehnt. Text der Risikobewertung ist nicht mehr auf aktuellem Stand.“ Erst Anfang Mai erfolgte die formale Herabstufung der Risikobewertung, einen Monat nach der gescheiterten Impfpflichtentscheidung im Deutschen Bundestag.

Fazit

Die Politik hat während der Corona-Pandemie nicht transparent gemacht, welche ihrer Entscheidungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierten und welche Entscheidungen sie kraft ihrer Rolle als Entscheidungsgewalt getroffen hat und dabei Unsicherheiten sowie schwere Nebenwirkungen verschwieg. Damit wurde die Bevölkerung getäuscht, lautete die Maxime doch stets „Wir folgen der Wissenschaft“. In einem besonderen Licht erscheint in diesem Zusammenhang nochmals der Umgang mit Menschen, seien es Privatpersonen, Ärzt:innen oder renommierte Virolog:innen und Epidemiolog:innen, die bereits während der Pandemie auf Unsicherheiten und unerwünschte Wirkungen verwiesen. Sie haben im Grunde viele Dinge gesagt, die nun alle in den Protokollen des Robert-Koch-Instituts nachlesen können. Wie wurde auf sie geschimpft, manche verloren ihren Job oder wurden sozial ausgegrenzt. Wer entschuldigt sich wann für dieses Unrecht? ///

Ein Beitrag aus der Septemberausgabe 2024 der Zeitschrift info3

Diane Hedderich studierte Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Sie arbeitet als Beraterin und Coach in Frankfurt am Main. www.dianehedderich.de

Über den Autor / die Autorin

Diane Hedderich