Frau Guérot, kurz vor unserem Interview gab es ein Treffen der deutschen Kanzlerin mit den Minister*innen und neue Beschlüsse zum Lockdown. Wie geht es Ihnen damit?
Das ist eine schwierige Frage. Wenn ich darauf antworte, sortiere ich mich bereits in die Spaltung der Öffentlichkeit ein, auch wenn ich das nicht möchte. Ich habe einerseits Verständnis für die pandemische Notlage, andererseits verstehe ich den wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Allein schon die Omnipräsenz dieses Themas halte ich für problematisch. Ich habe selbst erlebt, dass ich den Kontakt zu anderen Menschen verliere, nur weil ich langsam beginne die Maßnahmen für problematisch zu halten. Als Politikwissenschaftlerin beobachte ich einen sich verhärtenden Spaltungsprozess und finde, dass wir wieder mehr Brücken untereinander bauen müssen.
Für die Ressentiments gegen die Maßnahmen gibt es verschiedene Gründe. An welchen Punkten entstehen sie aus Ihrer Sicht?
Normalerweise müssen Maßnahmen plausibel argumentieren können, dass sie den gewünschten Zielen dienen, also der Senkung des Infektionsgeschehens und dem Schutz der Risikogruppen. Problematisch wird es, wenn der Staat das geltende Recht gegen die Intuition und über die Selbsteinschätzung der Bürger*innen hinweg durchsetzt. Giorgio Agamben spricht an diesem Punkt vom geltenden, bedeutungslosen Recht. Wenn Ordnungskräfte das Recht unhinterfragt durchsetzen, ist das für mich para-autoritär, um nicht zu sagen para-totalitär. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es vor der Pandemie auch andere Regeln gab und mir stellt sich die Frage, wie wir verhindern können, dass sich die aktuellen Regeln und autoritäre Tendenzen verstetigen oder gar zur neuen Normalität werden.
Wie hat sich Ihre Haltung zu den Maßnahmen seit Beginn der Pandemie verändert?
Persönlich fehlt mir seit April 2020 ein legitimer Raum für Kritik. Ich negiere nicht das Virus in seiner Gefahr, ich selbst kenne neun Personen, die sich infiziert haben und teilweise auch schwere Verläufe hatten. Aber ich kenne genausoviele Menschen, die psychisch oder finanziell unter den Maßnahmen leiden. Künstler*innen haben ihren Job verloren, ein Bekannter seine Wohnung, ein anderer ist wegen einer Depression vom Balkon gesprungen und alleinerziehende Mütter ringen mehr als zuvor mit der Situation. Die eigene Positionierung zur Krise hat meiner Ansicht nach nicht unbedingt etwas mit Vernunft zu tun, sondern damit, wie schwer man selbst betroffen ist. Da bin ich froh, dass wir endlich anfangen einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen, der das Blickfeld für die gesamtgesellschaftlichen Problematiken öffnet.
Wie lässt sich daran konkret mitgestalten, dass sich der Blick für diverse gesellschaftliche Realitäten verstärkt öffnet?
Aktuell haben wir den Fall, dass die Krise nicht mit, sondern neben dem Grundgesetz zu lösen versucht wird. Darauf weist beispielsweise Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung hin. Und das würde ich als Ohnmachtsposition beschreiben, in der wir um unsere Grundrechte betteln müssen. Für mich wäre es wichtig, dass wir eine Diskussion über den homo hygienicus führen. Dieser Begriff, den ich bei dem Anthropologen Matthias Burchard gelesen habe, meint die Einschätzung des Körpers als potenzielle Virenschleuder. Ich möchte hier nicht das Virus und die Pandemie beanstanden, aber gegen die Überlagerung des homo hygienicus auf alle anderen Daseinsbereiche des Menschen würde ich mich gerne wehren. Dafür braucht es auch die Pädagogik, die Theologie, die Philosophie und die Sozialwissenschaften in der Diskussion. Ich möchte nicht, dass wir uns nicht mehr berühren dürfen und auch nicht, dass es zu einer Verstetigung der aktuellen Regeln und Verhaltensweisen kommt.
Wie können wir zu einer offenen Gesprächskultur finden, in der Kritik Raum hat, ohne in der aktuell stigmatisierenden und polarisierten Gesprächskultur zu verharren?
Die polarisierte Gesprächskultur muss definitiv gestoppt werden. Ich habe persönlich erlebt, wie es ist, pauschal ausgeschlossen und von Veranstaltungen ausgeladen zu werden, nur weil ich mich an anderer Stelle über Corona geäußert habe. Ich wünsche mir eine hermeneutische Grundhaltung, die immer davon ausgeht, dass der Andere grundsätzlich zu hundert Prozent rechthaben könnte. Das ist das Prinzip von Demokratie. Wir müssen lernen, Sprecher*in und Argument zu trennen und das Richtige aus dem falschen Mund herauszunehmen, ebenso das Falsche im richtigen Mund zu benennen. Wir müssen der AfD den Freiheitsimpetus wegnehmen und ihn wieder in die Mitte der Gesellschaft stellen, sonst haben wir ein Problem.
Wie würden Sie die Rolle und das Verhalten der Politik in der pandemischen Krise beurteilen?
Ich habe großen Respekt und verneige mich vor all denen, die jetzt in der Verantwortung stehen. Ich habe aber den Eindruck, dass sich ein gewisser politischer Prozess verselbständigt, der nach immer härteren Maßnahmen greift. Und zwar nicht unbedingt, weil sie verhältnismäßig sind, sondern weil sie auf einen Resonanzboden in der Wählerschaft fallen, über den ich immer wieder erschrocken bin. Heute wissen wir, dass die Regierung am Anfang strategisch eine Schockwirkung erzielen wollte, was aus einem geleakten Strategiepapier des Innenministeriums vom März 2020 hervorgeht. Es ist nachvollziehbar, dass eine Gesellschaft in Panik Schutz sucht. Dieses Bedürfnis konnte beispielsweise ein Herr Söder gut erfüllen. Als Frau würde ich hier gerne hinzufügen, dass die männliche Präpotenz nach lange attestierter Krise der Männlichkeit wieder eine Funktion als Schutzgeber finden konnte. Außerdem funktioniert eine Krise meistens nach dem Gewinner-Verlierer-Mechanismus. In diesem Fall ist die CDU ein großer Gewinner, sie haben von 25 auf 40 Prozent der Wählerstimmen aufgeholt und möchten ihren Kurs deswegen beibehalten. Ihre Wählerschaft leidet weniger unter den Maßnahmen, weil sie eher in sicheren Verhältnissen lebt. Die Verlierer*innen der Krise, Obdachlose, Kinder, Frauen, das untere Fünftel der Gesellschaft, die haben keine Lobby und fallen deshalb bei politischen Entscheidungen eher raus.
Für Hannah Arendt ist der Sinn von Politik die Freiheit. Was verstehen Sie unter Freiheit in Bezug auf die Pandemie?
Ich halte jedenfalls nichts von einem unbegrenzten Freiheitsbegriff. Gesetze können im Sinne des Gemeinwohls die größte Unvernunft einfangen. Was wir aber ebenso sehr brauchen ist eine anthropologische Selbstreaktion, das heißt die Möglichkeit, sich selbst zum Virus zu verhalten, im Sinne einer mündigen Freiheit, anstatt Schutz durch den Staat zu verlangen. Mit Arendts Freiheitsbegriff möchte ich einen unmittelbaren Schutzanspruch der Bürger*innen durch den Staat zurückweisen. Kinder, Alte oder Menschen mit Behinderung können Schutz verlangen, aber kein erwachsener Mensch hat prinzipiell Anrecht auf Schutz. Delegieren wir jede Schutzverantwortung an den Staat, dann ist das notwendigerweise totalitär. Dann muss es einer überwachen, einer muss es durchsetzen und so weiter. An die Stelle des Schutzanspruches sollten also eine letzte Einschätzung des Selbstrisikos im konkreten Einzelfall, Selbstverantwortung und Wehrhaftigkeit treten. Grundsätzlich bin ich natürlich dafür, dass wir uns gegenseitig schützen, aber nicht um jeden Preis. Am Ende gilt doch der Satz von Benjamin Franklin: Wer die Freiheit für die Sicherheit aufgibt, verliert am Ende beides. Sicherheit können Sie nie garantieren. Aber wir können dafür sorgen, dass das Grundgesetz gilt.
Wenn Sie sagen, dass wir aus dem unmittelbaren Schutzanspruch an den Staat herauskommen müssen, was brauchen wir dafür und was sollen wir stattdessen verstärkt fordern?
Was ich mir wünsche sind mehr Demut und die Annahme, dass es Schicksalsschläge gibt, für die niemand verantwortlich ist. Gerade versuchen wir irrsinnigerweise alles im Griff zu haben. Wir verhandeln ein abstraktes Risiko, also die Simulationen, gegen eine konkrete Gefahr, die Menschen im eigenen Umfeld erleben. Die Verhältnismäßigkeit zwischen beiden ist für viele nicht mehr greifbar. Das ist ein Problem. Mir fehlt die gesellschaftliche Diskussion über die Akzeptanz einer letzten Unverfügbarkeit. Ich bin nicht bereit, eine Gesellschaft mathematischen Simulationen unterzuordnen. Vielmehr glaube ich wie Hannah Arendt daran, dass mit jeder Erdenbürger*in das Wunder und damit neues Denken in die Welt kommen kann. An schlichte mathematische Gleichungen kann ich nicht glauben. Was es braucht ist eine neue Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
Welche Lösungen schlagen Sie konkret vor, die eine Rückkehr zum früheren Zustand ermöglichen und gleichzeitig die pandemische Notlage nicht verkennen?
Was uns helfen kann sind die einfachen Lösungen. Wir könnten mehr Schnelltests einführen und uns verantwortlich selbst testen. Wer positiv ist oder Angst hat, bleibt Zuhause. Die eigene Angst muss wieder privatisiert werden. Wir könnten Theater und Vereine öffnen, da an diesen Orten nachweislich kaum Infektionen stattfinden. Natürlich ist es sinnvoll, Superspreader-Events zu vermeiden. Es ist aber auch wichtig, dass das öffentliche und kulturelle Leben weitergeht. Außerdem könnten wir vom schwedischen Modell lernen, das im Dezember sogar bessere Daten aufgewiesen hat als Deutschland.
Wo Sie Schweden erwähnen – können Sie zum Abschluss noch etwas zu Ihren Gedanken über Europa und die Coronakrise sagen? In Ihrem neuen Buch Nichts wird so bleiben, wie es war Schreiben Sie: „Corona hat die EU gelehrt, dass Europa sozial wird, oder es wird nicht sein.“ Was muss Europa aus der Pandemie lernen?
Wir müssen jetzt und immer wieder entscheiden, ob wir Europa richtigmachen oder nicht. Aktuell haben wir ein paar Türen für ein soziales Europa geöffnet. Es gibt einen Europäischen Gipfel, das Rescue-Paket, 1,8 Billionen von der EZB, das Hilfsprogramm, gemeinsame Zinsanleihen und so weiter. Mehr als die Politik stimmt mich aber die zivilgesellschaftliche Bewegung Citizens Take Over Europe optimistisch. Sie schreiben an einer Europäischen Verfassung. Was die Politik angeht bin ich eher unentspannt. Da ist ja gerade eher Grenzkontrolle wieder angesagt. In meinem Buch schildere ich drei Megatrends, die ich allesamt ablehne, weil sie anti-aufklärerisch sind. Re-Feudalisierung, Hygienisierung und Digitalisierung. Auf alle drei Trends muss Europa eine Antwort, genauer eine Geisteshaltung, finden. Ich würde die Forderungen wie folgt formulieren: Erstens kann Europa nur europäisch sein, wenn es ein Gemeinwohlprojekt wird, bei dem alle Bürger*innen gleich an Rechten sind. Zweitens müssen wir uns an unsere gemeinsame Kultur, das Antlitz, erinnern, in der wir uns als Personen und nicht nur vor dem Bildschirm begegnen, in der Berührung wieder möglich ist. Und drittens müssen wir uns von dem Begriff der evidenzbasierten Politik verabschieden. Weil es zwar immer eine Wahrheit, aber verschiedene Perspektiven auf diese Wahrheit gibt. Im Sinne des deutschen Idealismus und der europäischen Ideengeschichte brauchen wir wieder den Glauben an das Dritte, das tertium datur, an die Intuition und an eine neue Verbindung zwischen Wissen und Weisheit. ///
Dieses Interview erschien in der Ausgabe März 2021 der Zeitschrift info3.
Ulrike Guerot hat zuletzt zusammen mit dem Philosophen Markus Gabriel und anderen ein Manifest für die Offene Gesellschaft initiiert, das von zahlreichen Intellektuellen unterzeichnet wurde.