Vision Quest – Visionssuche für Jugendliche

Foto: Steven Kamenar/Unsplash

Zwölf Jugendliche haben sich am Rande eines Waldstückes versammelt. Dann verschwindet einer nach dem anderen im Holz und bleibt für einen Tag und eine Nacht allein in der Natur, der Wildnis, ohne Zelt und ohne Nahrung. Das Ganze nennt sich „Vision Quest“ und macht pädagogisch durchaus Sinn.

Von Thomas Höffgen

Der Begriff „Vision Quest“ (dt. „Visionssuche“) entstand im 19. Jahrhundert, als sich europäische Ethnologen erstmals ernsthaft mit den kulturellen Eigenarten der nordamerikanischen Naturvölker befassten: Während ihrer Feldforschung war ihnen aufgefallen, dass immer wieder Indianer – oftmals sogar Kinder oder Jugendliche – aus der Dorfgemeinschaft austraten und für mehrere Tage und Nächte alleine in die Wildnis verschwanden, ohne Nahrung, Obdach oder Feuer, um vom Rest des Stammes bei der Rückkehr feierlich empfangen und rituell in die Gesellschaft re-integriert zu werden. Als sie die Indianer nach den Hintergründen fragten, antworteten diese: „Wir suchen nach Erkenntnis. Und nach einer Vision für unseren weiteren Lebensweg. Das heilige Alleinsein hilft uns, zu uns selbst zu finden“.

Mittlerweile weiß man, dass nicht nur die indigenen Ethnien Amerikas die „Vision Quest“ betreiben, sondern sämtliche Naturvölker der Welt, etwa die Aborigines Australiens (Walkabout). Aber auch die großen Religionen kennen die Visionssuche, man denke nur an Jesus, der für 40 Tage fastend in die Wüste ging, oder Buddha, der sich fastend unter einen Baum setzte, bis er die Erleuchtung hatte; im Islam heißt die Visionssuche Istichāra. Und auch die alten Europäer praktizierten eine Visionssuche, handelt es sich bei dem Begriff „Quest“ doch um eine direkte Übernahme aus der altkeltischen Heldenepik und bezeichnet dort die „Reise“ oder „Âventiure“ des Märchenhelden, der – alleine in der Wildnis – gefährliche Aufgaben und Abenteuer zu bewältigen hat. In Deutschland sind es die Gebrüder Grimm, die jene alten Volksmärchen gesammelt haben, welche in den Visionssuchen der antiken Waldvölker Zentraleuropas wurzeln. Schon die Germanen praktizierten die Visionssuche, nämlich „das Draußensitzen“.

Rites de passage

Die „Vision Quest“ wird zu den Rites de Passage gezählt. Das sind Rituale, die den Übergang von der einen in die andere Lebensphase begleiten und mit Sinn versehen, insbesondere von der Kindheit zum Erwachsensein. In unserer modernen Zivilisation werden solche Übergänge jedoch nicht mehr rituell begleitet: In der vielleicht wichtigsten Entwicklungsphase ihres Lebens, der Pubertät, bleiben unsere Jugendlichen nur allzu oft auf sich allein gestellt, obgleich sie gerade jetzt der liebevollen Leitung durch das Labyrinth der inneren Natur bedürfen. Um  dem entgegenzuwirken wurde immer wieder der Versuch unternommen, die „Vision Quest“ in die moderne Zivilisation zu transferieren beziehungsweise vormoderne Übergangsriten wieder aufleben zu lassen: So führt das US-amerikanische Psychologenpaar Dr. Steven Foster und Meredith Little seit den 1970ern erfolgreich „Vision Quests“ in Kalifornien durch , und zwischen 2008 und 2015 initiierte der deutsche Gymnasiallehrer Peter Maier spezielle Jugend-Visionssuchen unter dem Namen „WalkAway“ in Bayern. Die Erfahrung zeigt, dass pädagogisch begleitete Visionssuchen, in Anlehnung an traditionelle Übergangsriten, auch heute noch den Jugendlichen dabei helfen können, sich über ihre Stellung im Kosmos bewusst zu werden und dementsprechend zu handeln.

Selbsterziehung

Zwar gibt es an der Waldorfschule kein traditionelles Konzept einer Visionssuche, jedoch verwirklicht die „Vision Quest“ das waldorfpädagogische Prinzip der „Selbst-Erziehung“ geradezu vorbildlich: Natürlich werden die Jugendlichen bestens auf die Zeit alleine in der Wildnis vorbereitet, werden günstigste pädagogische Rahmenbedingungen geschaffen, doch wenn die individuelle Suche erst einmal beginnt, ist jeder auf sich selbst gestellt. Schließlich sind es ihre Fragen und auch ihre Antworten, die die Jugendlichen eigenständig reflektieren. Das kann mitunter eine schwere Prüfung sein: am persönlichen Scheideweg zu stehen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Es gehört eine gehörige Portion Mut dazu, alleine in den Wald zu gehen und alleine mit sich selbst zu sein. Doch jeder kehrt am Ende glücklich und gestärkt zurück in die Gesellschaft, gewachsen und gereift, selbstbewusster, und um eine gewaltige Erfahrung reicher.

Die Jugend-Visionssuche lässt sich der Erlebnispädagogik zuordnen, wie sie bei Rousseau und Thoreau wurzelt, die durch unvermittelte Natur- und Selbsterfahrung – mittels des „erkennenden Erlebens“ – den verantwortungsbewussten Umgang mit sich selbst und mit der Welt entwickelt sowie den „freien Geist“ fördert. So erfüllt die Visionssuche gleichsam den anthroposophischen Anspruch, einen „ganzen Menschen“ zu erziehen, der das „Denken, Fühlen und Wollen“ in sich harmonisiert.

Pädagogische Praxis

Eine Quest bedarf ausführlicher Vorbereitung: Die Visionssuche muss interdisziplinär thematisiert werden, ethnologisch, psychologisch und auch metaphysisch. Begleitet wird die Theorie von ersten wildnispädagogischen Praxisübungen, die die Jugendlichen an das Alleinsein in der Natur heranführen, schließlich von der mehrstündigen Heldenwanderung.

Über allem schwebt freilich der philosophische Leitspruch: „Erkenne dich selbst“. Schließlich wird die eigentliche Suche in einem Waldstück außerhalb der Stadt begangen, in einem „heiligen Hain“. Ideal scheint eine Zeitspanne von 24 Stunden, die symbolisch für „Leben und Tod“ (und Wiedergeburt) steht. Eingeleitet wird die individuelle Suche mit der „Verabschiedung aus der Gesellschaft“ und dem „Schritt über die Schwelle“. Während die Ritualleiter im Basislager weilen, suchen sich die Jugendlichen schweigend „ihren Platz“ im Wald, widmen sich ihrer ureigenen „Question“ und erleben ihr „persönliches Mysterium“. Wenn sie zurückkehren, werden sie „zeremoniell empfangen“. Doch erst im abschließenden „Kreisritual“ brechen die Jugendlichen ihr rituelles Schweigen: Vor der „Stammesgemeinschaft“ erzählen sie von ihren unmittelbaren Erlebnissen, persönliche Geschichten, die von den Ritualleitern „gespiegelt“ werden.

Altes Hellsehen

Für Steiner war die Vision ein Relikt des alten Hellsehens, eine imaginativ wahrgenommene geistige Entität in der astralen Welt, zwar getrübt zwar durch die Erfahrungen des Gegenstandsbewusstseins, aber keine Halluzination, sondern eine real existierende geistige Tatsache in seelischer Gestalt.

In allen archaischen Kulturen gab es Menschen, die in dem Ruf standen, über visionäre Fähigkeiten zu verfügen und hellsichtig zu sein: Schamanen und Schmiede, Aöden und Sibyllen, Auguren und Druiden, Völvas und Albrunas. Bei diesen Völkern waren visionäre Erfahrungen ein existenzieller Teil der alltäglichen Welt und Lebenswirklichkeit. So auch bei den alten Griechen: Im Orakel von Delphi weissagte mindestens anderthalb Jahrtausende lang die Pythia genannte Seherin, tausende Athener zogen jährlich zu den Mysterien von Eleusis und Menschen jeden Standes suchten in den Heiligtümern des Asklepios nach heilsamem Tempelschlaf und therapeutischer Trauminkubation („Enkoimesis“).

Auch Steiner hat sich mit der Enkoimesis, die immer wieder mit der indianischen Visionssuche verglichen wird, befasst und ist sich sicher, dass die Initianten „während dieses Tempelschlafes ätherische Gestalten in der geistigen Welt“ wahrnehmen konnten: „In diesem Sich-Hinaufheben zum Geistigen war in alten Zeiten ein gesundendes Element, und es wäre gut, wenn die Menschen so etwas wieder verstehen lernten, denn dann würden sie auch die große Mission der anthroposophischen Bewegung verstehen lernen. Was ist sie denn anderes, diese Mission, als den Menschen hinaufzuführen in die geistigen Welten, dass er wieder hineinschauen kann in die Welten, aus denen er heruntergestiegen ist!“, so Steiner im zweiten Vortrag von GA 105.

Vidar Quest

In der germanischen Mythologie wird die Visionssuche vor allem durch das Bild des Vidar mitgeteilt. Vidar (auch Widar) beziehungsweise Víðarr heißt wörtlich „Waldkrieger“ (altnord. víðr „Wald“ und arr „Krieger“); sein Wohnsitz ist die unberührte Wildnis (altnord. landviði: „weites Land“). Als Waldkrieger bezeichneten die Germanen solche Leute, die sich über den Hag, über den Zaun, der das Dorf vom Wald abtrennt, hinauswagten, um ein rituelles „Draußensitzen“ (altnord. útiseta) zu begehen. Sie zogen einsam in die Wildnis, in Vidars Waldland, um die Nacht – oder Nächte – auf einem Hügelgrab zu meditieren; sie schwiegen dieser Zeiten, wie denn Vidar auch den Beinamen „schweigsamer Ase“ trägt. Man sagte: „Draußensitzen, um Weisheit zu erlangen“ (altnord. seta úti til fróðleiks).

Alleine in der Wildnis, fernab des Dorfes, wo wilde Tiere, Thursen oder Trolle lauerten, war der Waldkrieger mit seinen Ur-Ängsten konfrontiert. Hier kämpfte er mit seinen ganz persönlichen Dämonen – Gedanken und Gefühlen, Träumen und Traumata, Sorgen und Sehnsüchten. Hier drängten sich ihm die großen Lebensfragen auf, die die individuelle Existenz betrafen: Wer – oder was – bin Ich? Wo komme ich her und wo will ich hin? Wie verhalte ich mich richtig und wie falsch? Welche individuellen Freiheiten und welche gesellschaftlichen Pflichten habe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist der Sinn meines Lebens? Zeitlose Fragen, die im Innern jedes Menschen wirken und die das Menschenselbst konstituieren, damals wie heute.

Aber Vidar scheitert nicht an dieser schweren Prüfung: In der mythologischen Überlieferung heißt es gar, dass der Waldkrieger das größte Ungeheuer aller Zeiten ganz allein besiegt, nämlich den Fenriswolf, den Menschenfeind, der in den Sümpfen haust, jenes Monster aus den Untiefen des eigenen Bewusstseins. Freilich handelt es sich bei diesem sinnbildlichen Wolf um keinen Geringeren als den ‚inneren Schweinehund‘, den es oft schmerzlich zu besiegen und zu überwinden gilt, um gestärkt den weiteren Lebensweg begehen zu können. Vidar aber besiegt den Fenriswolf, indem er ihn mit seinem Schuh ins Maul tritt und dieses dann entzweireißt, das heißt er stellt sich seinen Ängsten und tritt ihnen entgegen. Gleichsam symbolisiert der Schuh, für den Vidar so berühmt ist, die „Wanderschaft“ des Waldkriegers durch die Wildnisse fernab der Zivilisation – die „Vision Quest“. ///

Dieser Artikel erschien in der Sommerausgabe 2020 der Zeitschrift info3, die Sie hier bestellen können.

Dr. phil. Thomas Höffgen studierte Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, war Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der RUB. Er ist Autor der Bücher Schamanismus bei den Germanen und Volkspoesie. Von grimmschen Märchen, germanischen Mythen und den Gesängen der Naturvölker sowie Karneval im alten Europa. Ursprung, Brauchtum und Bedeutung eines heidnischen Verkleidungskultes.

Literatur:

Steiner, Rudolf: Welt, Erde und Mensch, GA 105,

Meyer, Elard Hugo: Mythologie der Germanen. Straßburg 1903

Steiner, Rudolf: GA 57, S. 408ff., 227, S. 161f. und 227, S. 163

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