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Das Prinzip Abschreckung

Flüchtlinge: Das Prinzip der Abschreckung. © Picture Alliance - Info3 Verlag 2018
Auf Lesbos prallen europäische Urlaubsfreuden und der aussichtslose Status von Geflüchteten hart aufeinander. © Picture Alliance - Info3 Verlag 2018

Von der „freiwilligen“ Rückführung von Asylsuchenden aus griechischen Lagern bis zur Kriminalisierung der Seenotrettung im Mittelmeer: Europa setzt auf fatale Signale der Einschüchterung. Dagegen regt sich nun Widerstand.

Binjam starrt aus dem staubigen Fenster, während der Bus sanft ruckelnd auf die Fähre übersetzt. Vor ihm glitzert das Meer, hinter ihm schimmert die Abendsonne auf die Dächer der Cafés und Bars im griechischen Urlaubsort Mytilini. An den Handgelenken ist der junge Äthiopier gefesselt, an einen Mann aus Pakistan, den er bis vor Kurzem nicht kannte. Sein Magen knurrt, seit den frühen Morgenstunden hat Binjam nichts gegessen. Polizisten führen ihn und elf junge Männer in einen dunklen Raum im Innern der großen Passagierfähre, die von der griechischen Insel Lesbos nach Athen fahren wird. Binjam fühlt sich wie ein Schwerverbrecher.

Dabei hat er nichts geklaut, niemanden überfallen, nicht mal gegen ein Gesetz verstoßen. Sein einziges Vergehen soll darin bestehen, vor einem halben Jahr mit einem Schlauchboot auf Lesbos angekommen zu sein. Wie alle Geflüchteten auf der Insel wurde der 28-Jährige in das völlig überfüllte Flüchtlingscamp Moria gesteckt: Knapp sechs Monate harrt er zwischen verdreckten sanitären Anlagen und kaputten Campingzelten aus, hinter Betonwänden und Stacheldraht. Wartet auf den Beginn seines Asylverfahrens, von dem er weiß, dass die Anerkennungsquote für Menschen aus Äthiopien hoffnungslos niedrig ist. Irgendwann hält er das ewige Warten nicht mehr aus: die weinenden Kinder im Lager, das stundenlange Stehen vor den Essensschlangen, die Angst vor der Kälte im Winter. Er lässt sich von einer Mitarbeiterin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) überzeugen, freiwillig in sein Heimatland zurückzukehren. Da weiß er noch nicht, dass man ihn wie einen Kriminellen abführen würde.

Europas vergessener Krisenpunkt

Es ist Europas vergessene Krise: rund 8.000 Geflüchtete harren derzeit auf der Insel Lesbos aus, während sich ihre Asylverfahren über Monate, manchmal Jahre ziehen. Seit die griechischen Inseln im Rahmen des EU-Türkei Deals zu sogenannten „Hot Spots“ erklärt wurden, hängen dort die Menschen fest, die in Booten aus der Türkei ankamen. Sie dürfen nicht mehr aufs Festland weiterziehen, sondern müssen ihr gesamtes Asylverfahren auf den Inseln durchlaufen. Die Zahlen der neu ankommenden Geflüchteten sind zwar im Gegensatz zum Sommer 2015 stark gesunken, aber noch immer erreichen mehrere hundert Menschen am Tag die Inseln, während die griechischen Behörden mit der Bearbeitung der Anträge nicht hinterherkommen. Gleichzeitig sind die Lebensbedingungen in den Aufnahmelagern desaströs. Obwohl Moria ursprünglich für 3.000 Menschen gebaut wurde, leben dort inzwischen fast dreimal so viele Geflüchtete. Auf engstem Raum stehen Container und Plastikzelte dicht beieinander. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen sprechen von katastrophalen hygienischen Zuständen. Immer wieder bricht Gewalt im Lager aus, weil so viele Menschen zusammengepfercht leben, die auf der Flucht Traumatisches erlebt haben. Für Frauen ist die Gefahr sexueller Übergriffe besonders hoch, Kinder leiden unter Panik-Attacken.

„Freiwillige“ Rückkehr

Um dem Elend am Rande Europas zu entkommen, entscheiden sich immer mehr Menschen zur „freiwilligen“ Rückkehr in ihr Heimatland. Selbst wenn sie wissen, dass ihnen dort Gefahr für Leib und Leben droht. So wie Binjam, der als politischer Aktivist und Teil einer Minderheit in Äthiopien verfolgt wurde. Seinen Vater und seinen Cousin hat man ermordet, bevor Binjam flüchtete. Das ist auch der Organisation bekannt, die seine Rückkehr organisiert und seinen Flug von Athen nach Addis Abeba zahlt. Deshalb musste Binjam ein Dokument unterschreiben, in dem er versichert, im „Falle von persönlicher Verletzungen oder im Todesfall“ weder die IOM, noch eine andere involvierte Organisation oder Regierung haftbar zu machen.

Jetzt kauert der junge Aktivist im dunklen Bauch der Fähre und hat Angst davor, in Äthiopien anzukommen. Er sieht die Männer in Handschellen neben sich und bereut, das „Angebot“ der IOM jemals angenommen zu haben. Doch nun ist es zu spät. Die Tür wird von Beamten bewacht, in Zivil, um kein Aufsehen zu erregen. Es gelingt problemlos: Die Urlaubstouristen nippen weiter an ihren Latte Macchiatos. Niemand würdigt die gebeugt sitzenden Männer eines Blickes, während das Schiff aus dem Hafen ausläuft.

Mehr als 10.000 Menschen haben seit Juni 2016 Griechenland „freiwillig“ verlassen, weil sie die Zustände in den Hotspots nicht mehr ausgehalten haben und keine Alternative sahen, als der Rückkehr in ihr Herkunftsland zuzustimmen. Was aus diesen Menschen geworden ist, ob sie noch am Leben sind oder nicht, ist in den meisten Fällen nicht bekannt. Doch das Prinzip Abschreckung zeigt Wirkung: langsam aber kontinuierlich lässt es die Zahlen der Schutzsuchenden in Europa sinken. Das wissen führende EU-PolitikerInnen, deshalb haben sich die Lebensbedingungen in den griechischen Lagern in mehr als zwei Jahren nicht verbessert. Trotzdem schafft es die anhaltende humanitäre Krise auf Lesbos mittlerweile kaum mehr in die Nachrichten. Stattdessen haben sich die EU-Mitgliedstaaten im Juni dieses Jahres darauf geeinigt, weitere Gefängnislager im Stil von Moria in Europa zu errichten.

Proteste gegen die Abschottung

Um Menschen abzuschrecken, die über die Mittelmeerroute nach Europa kommen wollen, wurde es freiwilligen Seenotrettern inzwischen verboten, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. „Rechtsstaatliche Prinzipien werden einfach über Bord geworfen, um Symbolpolitik zu machen“, sagt Harald Glöde vom Verein Borderline-Europe – Menschenrechte ohne Grenzen e. V. „Werte wie die Grundrechte, Menschenrechtskonventionen, internationales Seerecht, die sich Europa mal auf die Fahne geschrieben hatte, die interessieren einfach nicht mehr.“ Glöde sitzt in seinem Büro in einem Berliner Hinterhof im Stadtteil Kreuzberg. Der heute 70-Jährige hat den Verein vor zwölf Jahren mitgegründet, auch gemeinsam mit einigen Mitarbeitern des Rettungsschiffs „Cap Anamur“, die damals in Italien vor Gericht standen, nachdem sie 37 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hatten. Zwei Außenstellen hat der Verein an den Rändern Europas, um die Situation an den Außengrenzen vor Ort zu beobachten: eine auf Palermo und eine auf Lesbos.

Rechtsstaatliche Prinzipien, Menschenrechts-konventionen, internationales Seerecht werden einfach über Bord geworfen, um Symbolpolitik zu machen. – Harald Glöde, Borderline Europe

Auf der griechischen Insel ist Borderline-Europe einer von zwei Trägern eines Begegnungszentrums für Geflüchtete und Einheimische, das Mosaik Support Center for Refugees und Locals. Knappe 40 Minuten mit dem Bus liegt das Zentrum vom Moria-Camp entfernt, mitten in der Hafenstadt Mytilini. Geflüchtete, die den Weg auf sich nehmen, können dort Sprach- und Yogakurse besuchen, im Chor singen oder kostenlose Rechtsberatung bekommen. Anfang diesen Jahres besuchte auch Stefan Voelkel, Geschäftsführer der Firma Voelkel Naturkostsäfte, das Projekt und startete einen Spendenaufruf für das Mosaik-Center.

In Deutschland beteiligt sich Borderline-Europe auch an Protesten gegen die europäische Abschottungspolitik, zum Beispiel den Demonstrationen des Bündnisses Seebrücke, die sich in den letzten Wochen bundesweit formiert haben. Tausende Menschen sind bereits in über 20 Städten auf die Straße gegangen – für die Rettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer und für legale Fluchtwege. Ausgestattet mit orangefarbenen Schwimmwesten und Schildern auf denen etwa „Menschen statt Grenzen schützen“ zu lesen ist oder „Europa, mach dich nicht zum Horst!“.

„Die Seebrücken-Initiative kommt genau zum richtigen Zeitpunkt“, sagt Glöde über die Bewegung. „Weil immer mehr Menschen sehen, was auf Regierungsebene passiert und sagen: Es reicht!“ Dabei sei die Seebrücken-Bewegung längst nicht die einzige: „Es gibt viele Zusammenschlüsse, die in den nächsten Wochen und Monaten Aktionen für eine humane Flüchtlingspolitik organisieren.“ Der langjährige Aktivist hofft, dass sich möglichst viele Menschen beteiligen: „Damit endlich auch politische Reaktionen folgen“.

Solange sich jedoch nichts grundlegend ändert am Umgang mit Schutzsuchenden in Europa, solange weiter auf Kosten menschenrechtlicher Prinzipien Abschreckungspolitik betrieben wird, solange sind Menschen wie Binjam Willkür und Rechtlosigkeit hilflos ausgesetzt. Als der junge Äthiopier in Athen ankommt, wird er in ein Abschiebegefängnis gesteckt. Zwei Wochen muss er in einer überfüllten Zelle ausharren, Handy und persönliche Gegenstände werden ihm abgenommen. Als er nach seiner Abschiebung nach Äthiopien zurückkehrt, tauchen wenige Tage später zwei Männer mit einem Pick-Up auf. „Sie haben mir eine Pistole an den Kopf gehalten und mich in einen Keller unter der Erde gebracht“, schreibt er später in einer E-Mail. Binjam wird gefoltert, die Männer drohen, ihn umzubringen. Der junge Aktivist hat keine Wahl: Er macht sich ein zweites Mal auf, verlässt Äthiopien. Nur eines wird er diesmal anders machen: er möchte nie wieder nach Europa. ///

Zu den auf Lesbos feststeckenden Menschen gehört auch der 24-jährige Afghane Fridoon Joinda. Mit kurzen Dokumentarfilmen macht er auf die Situation seiner Schicksalsgenossen aufmerksam.

Die Autorinnen:

Valeria Hänsel und Lucia Heisterkamp haben als freiwillige Unterstützerinnen auf Lesbos gearbeitet. Valeria Hänsel promoviert derzeit im Bereich „Kritische Migrations- und Grenzregime-Forschung“, Lucia Heisterkamp engagiert sich im Verein Borderline Europe.