Der Skandinavist Klaus Böldl hat eine neue Studie zum „dunklen“ germanischen Gott Odin vorgelegt, die durch akribisches Quellenstudium und differenzierte Reflexionen besticht. Odin ist für Böldl vor allem ein Wanderer, ein Sinnbild für unberechenbare Bewegungen im Raum und im Denken. Oft kommt er verkleidet oder in anderer Gestalt daher, er hört auf über hundert verschiedene Namen und schon deshalb ist ein scharf umrissenes Bild von ihm unmöglich zu zeichnen. Auch die Festlegung auf einen Gott der „Raserei“, des „Furors“ oder den „Herrn des wilden Heeres“ lehnt Böldl ab und sieht darin eher eine dämonisierende Verengung christlicher Missionare. Als Quellen konsultiert der Autor neben der Edda und den isländischen Sagas auch viele Ortsnamen, Runensteine, Statuetten sowie Goldbleche, die auf den Gott anspielen. Das Schöne an dem Buch ist, dass es nicht nur eine kühle Dekonstruktion leistet, sondern dass die Leidenschaft des Autors für die nordische Geisteswelt hindurchschimmert. Böldl reiste selbst immer wieder nach Skandinavien, um dort auch Inspirationen für einige Romane zu finden: die nordischen Regionen mit ihren Menschen und Geschichten stellen für ihn auch „Seelenlandschaften“ dar.
Neben dem nicht als Gott erkennbaren Wanderer wird Odin in den Quellen auch als Heiler dargestellt und es kommen ihm schamanische Qualitäten zu. Er galt aber auch als der Inspirator der Dichter und der Gott einer germanischen Kriegerelite, die ihn in den Fürstenhallen Skandinaviens verehrte, die wohl das Vorbild für den mythischen Ort „Walhalla“ abgaben, in den die Kämpfer nach ihrem Tod eingehen. Sympathisch an Odin ist, dass er keineswegs allwissend erscheint, sondern immer weiter nach Weisheit strebt. Dazu dienen bestimmte asketische Rituale (die Hängung am Weltenbaum) und das Konsultieren von mythischen Wesen wie Mimir, der den Weltenbaum hütet. Hier wird ein klarer Unterschied zum allwissenden und makellosen Gott des Christentums deutlich. Allein wegen dieser „Defizite“ eignet sich Odin nicht zur Vereinnahmung für ein angeblich „reines Germanentum“, wie es völkische Kreise am Ende des 19. Jahrhunderts versuchten. Solche Bestrebungen gab es auch in Skandinavien, wo Norwegen und Schweden den Germanengott bereits zur eigenen nationalen Identitätsstiftung missbrauchten. Doch im deutschsprachigen Raum fiel dieser Missbrauch besonders extrem aus: Die Brüder Grimm erklärten Odin bereits 1835 zum „Gott der Deutschen“, später dann machte ihn ein völkischer Schriftsteller wie Felix Dahn zum „Ausdruck des deutschen Volksgeistes“, der sich in Gestalten wie Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Goethe und Schiller immer neu inkarniert habe. Die Begriffe „germanisch“ und „deutsch“ wurden einfach gleichgesetzt und der Weg war nicht mehr weit zu einer mythisch überhöhten Figur, die im Kampf gegen Juden, Slawen, Franzosen und Katholiken eingesetzt werden konnte.
Eine solche verfälschende Ideologie fand nicht nur im Nationalsozialismus viele Anhänger, sondern wirkt auch in rechtsextremen Szenen der Gegenwart weiter. Hier allerdings differenziert Böldl und führt ebenso neopagane Strömungen an, die sich kritisch mit diesem bedenklichen Odin-Kult auseinandergesetzt haben. Insgesamt führt das Buch vor, wie stark in Europa die „Sehnsucht nach einer identitätsstiftenden numinosen Gestalt jenseits des Christentums“ war und immer noch ist. Kein anderer nicht-christlicher Gott hat über Jahrhunderte eine solche Faszinationskraft entfaltet wie Odin: ein enormes und anscheinend nicht versiegendes Kraftfeld. ///
Blödl, Klaus: Der dunkle Gott und seine Geschichte. Von den Germanen bis Heavy Metal. C.H.Beck, 315 Seiten, € 28. Zur Verlagsseite mit Leseprobe.