Nun ging es schneller als gedacht, und wer sich dieser Tage nach einem übergeordneten Standpunkt sehnt, dem sei die Lektüre dieses auf umfassenden Recherchearbeiten fußenden Werkes empfohlen. Auch wenn wir derzeit keine Außenperspektive einnehmen können: manche verblüffende Parallele kann unser heutiges Erleben womöglich relativieren und den Sinn für neue Horizonte öffnen.
Wenn es um eine Pandemie geht, ändern sich die Themen durch die Jahrhunderte kaum. Quarantäne, Lockdown, Social Distancing, Atemschutzmasken, Lüften – all diese Konzepte sind so alt wie die Menschheit und ihre Krankheiten. Dasselbe gilt auch für die Einschätzung der gebotenen Maßnahmen. Auch während der Spanischen Grippe entbrannten heftige Diskussionen um Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Schulschließungen – sowie Impfungen (USA), den Sinn von Fußballspielen vor leeren Rängen (Rio) und Gottesdienste (Zamora). Die Erkenntnis, dass Menschen in außerordentlichen Situationen außerordentlich reagieren – also nicht unbedingt vernünftig – ist ebenfalls kein Novum. Damals wie heute erfordert die Pandemie eine Unterordnung der Individualinteressen und zeitigt so einen sozialen Schwelbrand, weil das nicht nur in demokratischen Gesellschaften auf Dauer nicht gut geht. Damals wie heute führen Schreck und Überforderung zu irrationalen Reaktionen, Gewalt, Verschwörungstheorien und Verdrängung des Sterbens aus dem kollektiven Bewusstsein. Letzteres allerdings hat dazu geführt, dass die Welt heute weniger gut auf den Ausbruch einer Pandemie vorbereitet ist, als sie hätte sein können. Soweit die Autorin 2018.
Die Welt im Fieber zeigt, welche Bedeutung die Spanische Grippe hatte, warum das kollektive Gedächtnis das weltumspannende Ereignis weitgehend ausblendete, wie bedeutsam diese Pandemie der Jahre 1917–20 für die Entwicklung von Virologie, Alternativmedizin, Lebensreformbewegung und Gesundheitsfürsorge war. Wer darüber hinaus wissen möchte, wie Weltkrieg und Pandemie ineinander spielten, warum die Spanische Grippe vor allem Menschen zwischen 20 und 40 Jahren hinwegraffte, wie auf eine leichte Sommerwelle eine heftige zweite Welle im Herbst folgte (und dann noch eine dritte und eine vierte), warum in Indien mehr Frauen starben als Männer und was Mormonen und niesende Frettchen zur Erforschung von Infektionskrankheiten beigetragen haben, der stifte seine schlaflosen Nächte diesem Wälzer. Die Welt im Fieber ist spannender als jeder Krimi. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen: reiner Zufall.
Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Welt veränderte. Hanser 2018, 384 S., € 26,- ISBN 9783446259584 und als e-Book, € 8,99,-.