Abschied von Thomas Steininger

Der Publizist und Dialog-Initiator Thomas Steininger ist nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Sein Freund Jens Heisterkamp erinnert an eine lange, gemeinsame Wegstrecke.

Heute habe ich mich von meinem Freund Thomas Steininger verabschiedet, der seit seinem Tod am 9. Oktober in Niederursel aufgebahrt war.

Meine erste Begegnung mit Thomas hatte ich auf der Frankfurter Buchmesse, ich glaube, es war das Jahr 2004. Damals war er noch Schüler von Andrew Cohen und suchte in Deutschland gerade ein neues Zentrum für dessen Impuls. Ich erinnere mich, wie wir die trubelige Atmosphäre der Buchmesse um uns herum bald vergaßen und wir in ein intensives Gespräch über das Verhältnis des Universellen und Individuellen gerieten: Thomas betonte damals stark die Bedeutung des Aufgehens in einem über-persönlichen Geist, auch als Gegengewicht zum postmodernen Hyper-Individualismus, während ich vor dem Hintergrund der Anthroposophie die Besonderheit hervorhob, dass in der menschlichen Individualität der allgemeine Geist zu einer neuen Erscheinungsform kommen könne. Das sei auch evolutionär von Bedeutung. Diese Polarität hat uns alle weiteren Jahre unserer spirituellen Freundschaft geprägt und in immer neuen Dialogen zu wichtigen, aber immer vorläufigen Ergebnissen geführt.

Thomas, der selber aus Österreich stammte, wählte dann Frankfurt als Standort für seine Pläne und siedelte sich mit einem Team in unmittelbarer Nachbarschaft unseres Verlags und unserer Zeitschrift an. So war es bis zuletzt: Info3 in der Kirchgartenstraße 1, Enlightennext und später Evolve in der Kirchgartenstraße 3. – Zwei unterschiedliche Strömungen direkt als Nachbarn.

Eine Zeit intensiver Kooperation begann. Zusammen mit Sonja Student, die den Impuls von Ken Wilbers integraler Philosophie einbrachte, entstand ein permanenter Trialog, der ab 2005 auch in öffentlichen Veranstaltungen ausgetragen wurde. Insbesondere die „Herbstakademie Frankfurt“ entstand, in der sich jedes Jahr evolutionäre Spiritualität, integrales Denken, die Anthroposophie und auch manche andere Strömung austauschten. Die letzte große öffentliche Herbstakademie fand 2017 statt und wurde dann von kleineren Treffen zweimal im Jahr in Frankfurt und Ahrenshoop an der Ostsee abgelöst. Bei diesen intimen und freundschaftlich geprägten Begegnungen kam es bei immer neuen Themen zu noch mehr Dialogen und Gesprächen als zuvor schon. Ja, oftmals konnte man den Eindruck haben, dass die Begegnung in einem gemeinsamen Bewusstsein das eigentliche Thema dieser Veranstaltungen war, die selbst gesetzten Arbeitsschwerpunkte bildeten nur den Anlass.

In der Zeit unserer Zusammenarbeit haben Thomas und ich uns oft zum Austausch getroffen. Wir saßen dann meist in dem schönen Seminarraum des Evolve-Centers, und sprachen bei einem guten Espresso buchstäblich über Gott und die Welt. Oft gewährte mir Thomas Einblicke in die unterschiedlichsten geistigen Themenfelder, mit denen er sich intensivst beschäftigte: Er beherrschte philosophische Themen von der Antike bis zur Gegenwart, bewegte sich in der islamischen Gedankenwelt ebenso wie in der vedischen Philosophie. Die Beschäftigung mit dem französischen Gelehrten Henry Corbin erschloss ihm neue Möglichkeiten, unterschiedliche spirituelle und religiöse Traditionen vor einem gemeinsamen Hintergrund aus zu verstehen.

An seinem 60. Geburtstag staunte ich über die Grußworte aus aller Welt, die Thomas per Video-Botschaften erreichten. Er lebte zwar in dem beschaulichen Frankfurter Vorort Niederursel, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Elizabeth Debold war er von dort aus aber virtuell mit Menschen und Initiativen auf dem ganzen Globus verbunden. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift Evolve sowie Radio evolve erlebten immer neue Ausgaben und Sendungen.

Thomas und seine Freunde verstanden es, unterstützt von der Technik ein weitverzweigtes Netzwerk zu bilden. Mich selbst hat Thomas ein ums andere Mal in sein spannendes Online-Format von Radio Evolve eingeladen. Ich war immer froh, wie offen und konstruktiv Thomas bei diesen Sendungen einen Raum öffnen konnte.

Bei der Herbstakademie des Jahres 2024 zog Thomas, bereits deutlich von seiner Krankheit geprägt, persönlich eine Art Bilanz, was ihm diese Zusammenarbeit über die Jahre bedeutet hatte. Für mich überraschend kam er dabei auf den Anfangs-Gegensatz zwischen uns zurück: Die Betonung des Über-Persönlichen in seiner eignen Arbeit und die Betonung des Geistig-Individuellen in der Anthroposophie. Und zu meiner Überraschung meinte er, seine eigene Entwicklung sei eine langsame Hin-Bewegung zur Integration auch des Individuell-Geistigen gewesen, wofür er sehr dankbar sei.

Nicht nur im geschützten Rahmen der Herbstakademie, auch öffentlich ging Thomas offensiv und mit seiner schweren Erkrankung um. Seine unerschütterliche Zuversicht im Blick auf seinen Tod hat alle in seinem Umkreis tief beeindruckt.

Zu meinen schönsten Erfahrungen mit Thomas gehört die Arbeit an seinem kleinen Buch über Heidegger, das er „Das Ereignis des Seins“ genannt hat. Mit Heidegger hatte er sich sein Leben lang beschäftigt und ich konnte ein wenig dabei helfen, dass Thomas seine sehr originellen Gedanken zu diesem ebenso umstrittenen wie wichtigen Philosophen schriftlich festhielt. Ich selbst habe dabei viel gelernt. Aus den vielen Gesprächs-Stunden, die wir aufgezeichnet hatten, entstand schließlich ein Manuskript, das Thomas noch bearbeiten konnte. Das Buch hat ihm viel bedeutet.

Wie furchtbar es für einen so auf die Sprache und das Gespräch ausgerichteten Menschen wie Thomas gewesen sein muss, gegen Ende seines Lebens durch den Tumor in seinem Kopf immer mehr zu verstummen, kann niemand von außen ermessen. Thomas trug das bis zu seinem Ende klaglos und mit Würde. Er behielt auch in der äußeren Kraftlosigkeit den Stolz seiner ausdrucksstarken Individualität, die sogar noch ganz kurz vor seinem Ende durch einen überraschend kräftigen Händedruck sprach.

Was haben wir nicht alles an Themen und Motiven bewegt in all diesen Jahren! Dafür bin ich sehr dankbar. Und ich bin sicher: Wir bleiben im Gespräch, mein Freund.

Video-Tipp: Jens Heisterkamp und Evolve Chefredakteur Mike Kauschke im Gespräch über ihren am 9. Oktober verstorbenen Freund Thomas Steininger.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.

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