Die Idee der Wiederverkörperung im Thomas-Evangelium

Leonardo da Vinci, Salvator Mundi, 1499-1510
Leonardo da Vinci, Salvator Mundi, 1499-1510

Ein Gespräch mit Enno Edgar Popkes über das Ja zur Verkörperung und über Jesus als Mensch und als Gott.

Dass im Rahmen der evangelischen Theologie die Ideen einer unsterblichen Seele und der Wiedergeburt gelehrt werden, ist ungewöhnlich. Enno Edgar Popkes vom Lehrstuhl für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums in Kiel ist durch seine Forschungen zum Thomas-Evangelium zu diesen Einsichten gelangt.

Interview: Jens Heisterkamp

Herr Popkes, was hat Sie zum Studium der evangelischen Theologie geführt?
Ich stamme aus einer sehr christlichen, freikirchlich-baptistischen Familie und unsere Eltern haben früh versucht, uns Geschwister für den christlichen Glauben zu öffnen. Das hat bei mir auch gefruchtet, ich bin in den Kindergottesdienst gegangen und habe mich schon sehr früh im wahrsten Wortsinne für Gott und die Welt interessiert.

Ich hatte auch bereits als Jugendlicher den klaren Wunsch, Pastor zu werden. Gleichzeitig hatte ich – ich möchte fast sagen – ein Erweckungserlebnis, als ich das erste Mal ein Buch von Raymond Moody gelesen habe. Es ging um die sogenannten Nahtod-Erfahrungen. Sein erstes Buch kam 1975 heraus, Life after Life, das dann Anfang der 1980er Jahre ins Deutsche übersetzt erschien unter dem Titel Leben nach dem Tod. Ich weiß heute noch genau wie es war, als ich das damals in der Hand hielt und als Dreizehn-, Vierzehnjähriger las – und ich wusste eindeutig: Das ist die Wahrheit – es gibt ein Leben nach dem Tod! Ich habe dann Menschen in meiner Umgebung gefragt, was sie von solchen Nahtod-Erfahrungen halten, und dann kam ein Spektrum von Antworten, das sich im Grunde bis heute nicht geändert hat, angefangen von „Alles nur Halluzinationen“ bis „Kann nicht stimmen, weil es mit der Bibel nicht übereinstimmt“.

Was genau hat Sie daran angesprochen?
Es war wie ein innerer Gongschlag: Eine innere Stimme, die ich noch nicht richtig in Worte fassen konnte, sagte mir: Das ist es! Dann habe ich nach der Schule begonnen, Theologie zu studieren, auch in der Hoffnung, dass dieses Thema behandelt wird. Es kam aber nicht. Manche Professoren, die ich darauf ansprach, wussten gar nicht wovon ich rede. Ich war enttäuscht darüber, fand dann aber relativ schnell andere Themen, die mich fasziniert haben, dazu gehörte das frühe Christentum.

So gelangte ich praktisch auf Umwegen zu meiner Arbeit. Denn mein Doktorvater Jörg Frey regte mich dazu an, neben dem Griechischen noch weitere Sprachen zu lernen, die für eine Kenntnis der Geschichte des frühen Christentums von Bedeutung sind. Ich fand das Koptische am spannendsten, weil das auch die Sprache der Christen in Ägypten war. Und schließlich stieß ich bei einem Oberseminar an der Universität München zum ersten Mal auf das Thomas-Evangelium, das aus dem Griechischen ins Koptische übersetzt worden war.

Auch wenn seit der Antike bekannt ist, dass es ein Thomasevangelium gab, wurde es zufällig erst 1945 in Ägypten wieder aufgefunden. In der ersten Stunde des Oberseminars wurden dann Referate vergeben und bei mir landete das Jesus-Wort aus dem Thomas-Evangelium, das mit den berühmten Worten beginnt: „Ich bin das Licht.“ Seitdem hat mich das Thomas-Evangelium nicht mehr losgelassen.

Worin liegt für Sie das Besondere dieser Aussage?
Zunächst bin ich als Theologe inzwischen überzeugt, dass Jesus das wirklich gesagt hat, und dass es eine Selbsterkenntnis war zu sagen: Ich bin das Licht. Einen Streit gab es aber im frühen Christentum darum, welche Konsequenzen das hat. Der Jesus des Thomas-Evangeliums sagt weiter, dass dieses Licht in allen Menschen verborgen ist, während das Johannes-Evangelium sagt, dass Jesus das Licht ist, dass aber nur er das Licht ist.

Das war der Konflikt zwischen jenen Richtungen des frühen Christentums, die mit dem Johannesevangelium und dem Thomasevangelium in Beziehung stehen. Es gab einen Konflikt zwischen diesen Gruppierungen, in dessen Rahmen der Evangelist Johannes den Apostel Thomas als den „ungläubigen Thomas“ darstellte, um ihn in ein zweifelhaftes Licht zu rücken.

Meine Überzeugung ist: Die Lichterfahrungen der sogenannten Nahtod-Erlebnisse erzählen heute genau von dem, was Jesus damals als Licht-Erlebnis hatte und was bei ihm zu einer Lebenswende führte. Nahtod-Erlebende nehmen jenes göttliche Licht und jene göttliche Liebe wahr, welche Jesus zu seinen missionarischen Tätigkeiten und zu seiner Botschaft inspirierte.

Wer ist Jesus für Sie?
Ich denke, Jesus war bis zu seinem 30. Lebensjahr ein einfacher Handwerker. Dann hat er sich mit 30 Jahren taufen lassen zur Vergebung der Sünden – er hat sich also offenbar für einen sündenbelasteten Menschen gehalten. Dann kommt seine Zeit in der Wüste, und danach beginnt er mit seiner Tätigkeit als Lehrender und als Heiler.

Sie denken, dass er in der Wüste ein Schlüsselerlebnis hatte?
Ja, da muss er das erkannt haben, was das Thomas-Evangelium lehrt: Ich bin das Licht. Jesus ist für mich eine Seele, die bereits voll und ganz am Ziel ihrer Entwicklung angekommen war und dann freiwillig zurückgekommen ist, um auch allen anderen Seelen diesen Weg zu ermöglichen.

Also im weitesten Sinn ein erleuchteter Mensch?
Mensch und Gott – das ist das, was wir heute nicht leicht denken können, aber im Thomas-Evangelium wird genau das gelehrt.

Sie warten da mit ungewöhnlichen Perspektiven auf, etwa mit dem Begriff der Seele, die eine Prä-Existenz und eine Post-Existenz hat. Das ist ja in der evangelischen Theologie keine Selbstverständlichkeit.
Es ist zunächst eine Tatsache, dass ein Großteil der biblischen Schriften die Existenz einer unsterblichen Seele nicht kennt. Es gibt zwar den Begriff Seele, im Griechischen Psyché, als Übersetzung des hebräischen Nefesh, aber streng genommen entspricht die griechische Psyche nicht dieser Nefesh. Aber in Teilen eines Judentums, das sich in Alexandrien ausgebildet hat, ist das anders. Der jüdische Gelehrte Philo von Alexandrien, ein Zeitgenosse Jesu, war im Sinne des Platonismus zutiefst von einer unsterblichen Seele überzeugt und so kam es zu einer Synthese jüdischer und platonischer Welt- und Menschenbilder.

Im Thomas-Evangelium gibt es nun sehr viele Logien, also Aussprüche, die nur verstanden werden können vor dem Hintergrund der Annahme einer unsterblichen Seele. Die Jünger wollen beispielsweise immer Auskunft von Jesus haben zu der Frage, was am Ende der Zeiten ist, und Jesus antwortet immer: Nein, Ihr müsst den Anfang verstehen. Wenn Ihr versteht, wo Ihr herkommt, werdet Ihr auch verstehen, was das Ende ist. Besondere Beachtung verdient dabei ein Jesus-Wort, wo der Jesus des Thomasevangeliums hervorhebt, dass die Menschen aus dem göttlichen Licht stammen – und dies entspricht jenen Erfahrungen, die Menschen im Zusammenhang mit Nahtoderfahrungen machen. Das ganze Thomas-Evangelium bleibt unverständlich, wenn man nicht die Existenz einer unsterblichen Seele voraussetzt.

Sie lehren darüber hinaus, dass im Thomas-Evangelium von Seelenwanderung die Rede ist. Das klingt heute zunächst sehr ungewohnt – könnte es aber sein, dass zu Zeiten Jesu diese Idee in manchen Kreisen einfach üblich gewesen ist?
Ja, und das gilt auch noch länger, über die Zeit Jesu hinaus. Bis sich dann bestimmte Ausprägungen der christlichen Theologie durchgesetzt haben und die Seelenwanderung radikal bekämpft wurde. Origines, der noch die Präexistenz der Seele lehrte, wurde im sechsten Jahrhundert verdammt.

Was war der Grund?
Das ist relativ leicht zu erkennen: Mit Kaiser Konstantin begann eine Entwicklung, die man geradezu als einen Sündenfall des Christentums bezeichnen kann. Er hatte erkannt, dass es bereits so viele Christen gab, dass man sie nicht mehr bekämpfen konnte, und so machte er sie stattdessen zu einem neuen Fundament seiner Machtansprüche. In Folge dieser Entwicklungen wurde das Christentum schließlich zur Staatsreligion. Aus einer verfolgten Religion wurde eine verfolgende Religion.

Rund zwei Jahrhunderte später hat dann Kaiser Justinian eine Form von Theologie durchgesetzt, welche immer stärker das Christentum und den römischen Machtapparat miteinander vernetzen sollte. Die Vorstellung war die, dass letztlich die Kirche dafür verantwortlich ist, wer Anteil am ewigen Leben haben kann und wer nicht, und zwar durch die Verwaltung der Sakramente. Justinian hat das als Kaiser regelrecht verfügt. Er war auch zum Beispiel verantwortlich dafür, dass die platonische Akademie nach ca. eintausend Jahren Tradition geschlossen wurde, denn es durften nur noch christlich getaufte Lehrer unterrichten. Seitdem war auch die Idee von Seelenwanderung ad acta gelegt.

Zugespitzt formuliert: Jesus erwartete das Reich Gottes, aber was kam, war die Kirche.

Was hat es Ihrer Ansicht nach mit der Auferstehung Jesu auf sich?
Der entscheidende Anfangspunkt des frühen Christentums war der Glaube an die Auferstehung Jesu von den Toten. Dabei war aber von Anfang an umstritten, was Auferstehung eigentlich sein soll. Ich glaube ja, dass das, was die Jünger erlebt haben, genau dasjenige ist, was wir heute als einen Nachtod-Kontakt bezeichnen. Sehr viele Menschen, die in der Hospiz-Arbeit tätig sind oder Angehörige bis zum Tode gepflegt haben, berichten darüber: Er oder sie hat sich mir noch einmal gezeigt, er oder sie wollte sich verabschieden.

Dieses Phänomen der Nachtod-Kontakte ist weit verbreitet. Und ich glaube, bei Jesus hat so etwas stattgefunden. Hätte es keinen solchen Initial-Moment nach dem Tod Jesu gegeben, dass er den Menschen tatsächlich erschienen ist, dann wäre es bald mit der kleinen Gruppe der Anhänger Jesu vorbei gewesen und Jesus wäre vergessen worden. Deshalb sage ich: Lasst uns offen darüber nachdenken, um was es sich damals eigentlich gehandelt hat. Die Phänomene der Nachtod-Erlebnisse ermöglichen es uns heute, ganz neu über die Anfänge des Christentums nachzudenken.

Ich möchte ergänzen: Es kann doch einer Kirche, die permanent beklagt, dass sie immer mehr Mitglieder verliert, nicht schaden, über ihre Anfänge neu nachzudenken – und im Rahmen dessen können auch jene Vorstellung von einer Seelenwanderung und einem Leben nach dem Tod ins Gespräch gebracht werden, die damals verdrängt und verurteilt wurden.

Zudem möchte ich Folgendes hervorheben: Diese Themen sind nicht nur religionshistorisch spannend, sondern sie haben auch sehr große Potenziale für Seelsorge, Sterbebegleitung und Trauerbegleitung. Es ist für mich ein Akt tätiger Nächstenliebe, Menschen mit diesen Themen Hoffnung und Trost in Krisensituationen zu vermitteln. Gleichzeitig kann man in solchen Kontexten ganz neu die Frage in den Raum stellen: Warum sind wir eigentlich hier? Bei den sogenannten Nahtod-Erfahrungen berichten ja Betroffene, dass sie oft gar nicht mehr zurück wollten aus dem Licht, ihnen wird aber gesagt: Du musst noch einmal zurück, weil du mit deiner Aufgabe in diesem Leben noch nicht fertig bist – das ist mein Lieblingsmotiv.

Die unsterbliche Seele geht in dieses Leben mit einer Aufgabe – und hat nach dem Tod weitere Leben vor sich. Zum Thema der wiederholten Erdenleben sagen Sie, dass es einen mehr östlichen und einen mehr westlichen Ansatz gibt, was sich übrigens auch mit den Ideen Steiners deckt. Mir scheint, viele Widerstände, die sich heute gegen die Idee der Wiederverkörperung richten, beziehen sich eher auf die östlich geprägte Lehre. Was zeichnet für Sie den mehr westlichen, aus dem Platonismus und den verdrängten Formen eines frühen Christentums kommenden Ansatz aus?
Das Hauptelement in der westlichen Variante ist sicher das Ja zu dieser Welt und auch das Ja zur Verkörperung, während die östliche Lehre sagt, es sei das Ziel, sich von der materiellen Welt zu befreien und sie als Täuschung zu durchschauen. Ich sage dagegen: Die Welt ist keine Täuschung, sondern das Leben in ihr ist die Schule, in der wir lernen und zu deren Weiterentwicklung wir einen Beitrag leisten sollen.

Für mich ist die Geburt eines Kindes immer eine schöne Gelegenheit, Fragen in diese Richtung zu stellen: Glaubt ihr, dass da eine Seele zu euch gekommen ist, oder dass diese Seele erst jetzt mit der Geburt entstanden ist? Und in Richtung des Neugeborenen: Na, was hast du dir wohl für dieses Leben vorgenommen? Wesentlich ist, dass wir vor dem Hintergrund der Wiedergeburt Ja sagen können zu dieser Welt und zu diesem Leben.

Jedes menschliche Leben hat seine eigene Herausforderung, durch die jede einzelne Seele wachsen kann. Aber je weiter entwickelt sie ist, desto mehr will sie und soll sie auch zum gesamten Guten in der Welt beitragen. Es geht also nicht nur um sie selbst, sondern um alle. Für mich persönlich ist das Ziel das, was wir in der theologischen Tradition die Allversöhnung nennen: Alles kommt aus der göttlichen Einheit und alles kehrt dahin zurück. Und jeder Einzelne leistet seinen Beitrag dazu, dass es auch möglich wird, dass alles dahin zurückkehrt. Es geht um Seelenwanderung als Seelenwachstum auf dem Weg zur Allversöhnung.

Was hat es mit dieser Allversöhnung genau auf sich?
Das ist ein wichtiges theologisches Prinzip. Ich weiß noch genau, als ich als baptistisch Großgewordener im Theologiestudium in Tübingen zum ersten Mal mit der Idee der Allversöhnung konfrontiert wurde, wie negativ ablehnend ich da war. Mein spontaner Einwand an den Dozenten damals lautete: Wie soll denn jemals zwischen einem Adolf Hitler und den Kindern, die er in den KZs umgebracht hat, eine Allversöhnung stattfinden?

Damals vor dem Hintergrund meiner Annahme, dass es nur eine Existenz, nur eine Geburt und einen Tod gibt, hielt ich das für ausgeschlossen. Tatsächlich wird so etwas erst möglich zu denken, wenn man zulässt, dass es eine Unzahl von Verkörperungen geben kann, die am Ende dann so etwas wie Allversöhnung entstehen lassen.

Ich bin tatsächlich der Überzeugung, dass die Idee der Allversöhnung die zentrale Hoffnung des Christentums werden sollte – und diese Hoffnung ist meines Erachtens ohne die Vorstellung von Wiederverkörperungen, die einem Wachstum der Seele und einer Versöhnung dienen, nicht zu denken. Wie bereits gesagt: Seelenwanderung als Seelenwachstum zur Allversöhnung.

Noch einmal auf den Punkt gefragt: Wie können für Sie Wiedergeburt und Christentum zusammenkommen?
Insofern die unsterblichen Anteile der Seele während der Inkarnation in einem sterblichen Körper wachsen, um immer mehr die Wesensmerkmale Gottes wie Liebe, Güte und Gerechtigkeit zu praktizieren – und dadurch immer mehr mit Jesus wesenseins zu werden. Das ist die Verheißung des Thomas-Evangeliums.

Und mir geht es darum, die Evangelien nach Thomas und Johannes ganz neu miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn im Zuge jenes zuvor erwähnten Konfliktes gestaltet der Verfasser des Johannes eine „Theologie der Liebe Gottes“, welche die Bedeutung des konkret praktizierten Liebesgebotes Jesu in einer unvergleichlichen Weise in Worte fasst.

Mit anderen Worten: Thomas und Johannes neu miteinander vermittelt, dies gibt ein gutes Fundament für das bevorstehende, 2000-jährige Jubiläum der irdischen Tätigkeit Jesu. ///

Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift info3, Mai 2025.