Ihren ermutigenden Essay über das „Altern“ beginnt Elke Heidenreich mit zwei alternativen Beschreibungen ihres Lebens. Im ersten Fall schildert sie eine schwere Kindheit in einem lieblosen Elternhaus und anschließende, von Krankheit und weiteren Schicksalsschlägen gezeichnete Jahrzehnte, bis hinein in ein hohes Alter ohne Geborgenheit eines familiären Umfelds.
In der zweiten Version skizziert sie die vielen glücklichen Wendungen und Weichenstellungen, die ihr in ihrem über 80-jährigen Leben beschieden waren: ihre exzellente Bildung, das Überwinden schwerer Krankheiten, beruflichen Erfolg und große Beliebtheit, ihre spannenden Beziehungen, kurzum, das interessante Leben einer unabhängigen Frau, die ihr Dasein jenseits von Normen und Konventionen meistert. Beides ist Wirklichkeit.
Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben, lautet der Titel eines schon älteren Büchleins des Psychiaters Ben Furmann. Damit ist kein Schönreden dessen gemeint, was schwer und vielleicht fast unerträglich war. Vielmehr geht es darum, worauf wir den Fokus richten und welcher Erzählung von unserem eigenen Sein wir mehr Aufmerksamkeit widmen. Ich selbst entscheide, welche Seite meines Daseins ich immer wieder „füttere“ und stärker gewichte. Vor allem wenn man unter beschwerlichen Umständen aufwuchs, übt das Dunkle einen mächtigen Sog aus.
Die große Mystikerin Teresa von Avila warnt davor, dass das Finstere uns verfolgt und gleichsam immer wieder „anspringt“, während wir das Helle, Lichte bewusst suchen und wie lebensspendendes Wasser aus einem tiefen Brunnen schöpfen müssen. Die moderne Gehirnforschung liefert Erklärungen für diese Erscheinung, mit der wir uns das Leben selbst erschweren auch in Phasen, in denen die äußeren Umstände sich zum Freundlichen hin gewandelt haben: Wir Menschen fühlen uns schlicht wohler im Vertrauten und Gewohnten, sei es auch noch so unwirtlich.
Für das Gehirn ist es einigermaßen aufwändig, im fortgeschrittenen Alter neue neuronale Strukturen aufzubauen und erste Schneisen ins Dickicht gewohnter Gedanken zu schlagen. Um aus frisch angelegten „Denktrampelpfaden“ im Lauf der Zeit großzügige Alleen werden zu lassen, braucht es Übung und Ausdauer. Bewusst müssen wir unseren Kopf immer wieder wegdrehen von leidvollen Erfahrungen und Zeiten der Entbehrung hin zum Sonnigen und Leichten, möge es sich zunächst auch noch so fremd und falsch anfühlen. Das „Wegdrehen“ meine ich auch körperlich: Wenn wir gedanklich in einer trüben Sackgasse feststecken, kann es helfen, sich um 180 Grad zu drehen und versuchsweise einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Und wenn die körperliche Fitness es zulässt, soll gar ein Kopfstand Wunder wirken.
Ein ohne Akrobatik einsetzbares Trainingsinstrument ist die Dankbarkeit. Bei uns daheim vergeht kein Abend, an dem mein Mann und ich uns nicht vor dem Einschlafen gegenseitig erzählen, wofür wir dankbar sind. Das ist kein krampfhaftes „positiv denken“, sondern eine bewusste Rückschau auf das, was an diesem Tag freudvoll, angenehm oder im Minimalfall zumindest nicht belastend war.
Selbst an schlechten Tagen, an denen nichts so recht gelingen wollte, finden sich reichlich Gründe für Dankbarkeit, sei es für sauberes Trinkwasser oder dafür, ein Dach über dem Kopf zu haben und in einem warmen Bett liegen zu dürfen. Für viele Menschen auf der Welt ein unvorstellbarer Luxus – weit entfernt von Mangel, sondern Fülle pur.
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe April 2025.