Vitalitäts-Booster Schlehe

Schlehenblüte Foto: Frank Meyer / Info3

Die Schlehe erfreut nicht nur durch ihre Blüten, sie kann auch auf vielfältige Weise gesundheitsfördernd eingesetzt werden. Ein Überblick mit Hinweisen zur Selbstanwendung.

Von Johannes Wilkens und Frank Meyer

Der Anruf kam unerwartet. „Ich wollte ihnen nur mitteilen, dass ich wieder bis zu vier Stunden laufen kann und morgens endlich so richtig erfrischt aufwache.“

Der junge Patient, Student und Triathlet, hatte zuvor über 18 Monate nach einer Covid-19-Erkrankung eine schwere Form von ME/CFS entwickelt, einem schweren Erschöpfungssyndrom. Die Betroffenen leiden neben einer schweren körperlichen und kognitiven Schwäche an einer anhaltenden Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Was hatte er im letzten halben Jahr nicht schon alles probiert und nichts half so richtig weiter. Schließlich erhielt er eine Kur mit Prunus spinosa e floribus et summitatibus D3, einer Zubereitung aus Schlehen-Blüten und -Triebspitzen als Globuli, allerdings ohne große Erwartungen. Und dann kam drei Wochen später dieser Anruf.

Seit Urzeiten geschätzt

Sollte es an dieser bescheidenen Arznei gelegen haben? Das ist durchaus möglich, denn viele anthroposophische Ärzte machen gerade ähnliche Erfahrungen mit der Schlehe (Prunusspinosa) als wichtigem anthroposophischen Mittel, das in unterschiedlichen Zubereitungsformen zur Verfügung steht. Die klassische Naturheilkunde und die Homöopathie hingegen nutzen die schon in der Steinzeit geschätzte Heilkraft der Schlehe kaum noch.

Rudolf Steiner, der zusammen mit der Ärztin Ita Wegman die anthroposophische Medizin ins Leben rief, hat sich in Vorträgen und Büchern nur wenig zur Schlehe geäußert. Hingegen wurde von ihm am Krankenbett bei der Beratung mit Ita Wegman die Schlehe recht häufig empfohlen. Sie bildete zusammen mit dem Tabak und dem Quitten-Zitronenpräparat Gencydo die Basis für die erste anthroposophische Asthmatherapie. Der Schlehe kommt dabei die Aufgabe der Anregung der Lebenskräfte zu.

Nach Influenza und anderen Infektionen mussten die organischen Basislebenskräfte auch schon vor 100 Jahren stimuliert und unterstützt werden. So ist seinerzeit ihr Gebrauch bei einer jüngeren Patientin dokumentiert, die nach einer Grippe an schwerer Erschöpfung mit Gliedersteifigkeit und Ängstlichkeit litt und sich erst nach der Gabe von Prunus spinosa schnell erholte. Infolge der „Spanischen Grippe“-Pandemie (1918 bis ca. 1920) litten damals viele Menschen unter schwerer Erschöpfung und anderen Spätfolgen, Unzählige waren ausgezehrt und geschwächt. Rudolf Steiner nahm das zum Anlass, den Schlehdorn, wie die Pflanze auch genannt wird, als kraftvoll belebende Volksmedizin wieder ins Bewusstsein zu rücken. Ihre anregende Wirkung half, den Körper zu vitalisieren, die Lebenskräfte zu wecken und den Weg der Rekonvaleszenz zu unterstützen. In Vorträgen vor den Goetheanum-Arbeitern wies Steiner auf die ihr innewohnenden Kräfte hin: „Wenn der Frühling kommt, da gebe ich solchen Menschen, je nachdem sie kraftlos geworden sind, den Saft von Schlehdorn. Wenn man den Schlehdornsaft aufbewahrt – Sie kennen die herbe, säuerliche Pflanze – und ihn einem solchen Menschen, der im Frühling kraftlos wird, in den Mund hineinbringt, dann kann man ihn halten über den Frühling und Sommer hindurch“. (GA 351 S. 93 f.) Heute sind seit dem massenhaften Auftreten der Corona-Infektionen und von Long- und Post-Covid solche sogenannten postinfektiösen Erschöpfungssyndrome wie in den 1920er Jahren erneut in den Fokus gerückt – und wieder ist es an der Zeit für den Vitalitätsbooster Schlehe! Und wer hätte, auch ohne an Post-Covid oder CFS/ME zu leiden, in diesem Jahr nach einem langen Winter mit besonders vielen und hartnäckigen Infekten nicht einen kraftspendenden und belebenden Energieschub nötig?

Warum ist die Schlehe in der Lage, derart belebend zu wirken, und was macht diesen Strauch so besonders? Der Schlehdorn gehört zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae), und dort zur Gattung Prunus. Diese enthält die bekannten Steinobstsorten wie Kirsche und Pflaume oder auch Pfirsich sowie Mandel und Aprikose. Anders als ihre Geschwister gibt sie uns aber keine saftigen Früchte, bleibt sie herb und ist vom ganzen Duktus der Pflanze her eher wehrhaft. Als Hecke fast undurchdringlich, bietet Prunus spinosa vielen Vögeln ausgezeichneten Schutz. Namen wie „Schwarzdorn” und „Heckendorn” sowie die lateinische Art-Bezeichnung Prunus „spinosa” verweisen auf die Dornbildung als einem charakteristischen Merkmal. Dornen sind austreibende Seitensprosse, die im Entstehen schon verhärten und quasi im Embryonalzustand verholzen. Diesem intensiven Absterbevorgang im Geburtsvorgang der Triebe stehen besonders vitale unterirdische Wurzelausläufer und -triebe gegenüber. Anders gesprochen: Die Schlehe nimmt den Tod ins Leben auf und ist damit eine Pflanze, die mit dem österlichen Geheimnis des Frühlings, mit den Kräften des Todes, aber auch mit der Auferstehung und lebendigen Erneuerung tief vertraut ist.

Boten des Frühjahrs

Schlehen läuten mehr noch als Osterglocken das Frühjahr ein. Wenn die Abertausende von fast überirdisch weißen Blüten sich öffnen, ist plötzlich und unvermittelt der Frühling da. Diese mit überquellendem Nektar gesegneten Blüten sind „Frühentwickler“: In den ersten warmen Tagen nach dem Frühlingserwachen entfalten sie noch vor dem Blattaustrieb ihre erhabene Pracht und offenbaren die überwältigende Schönheit der erwachenden Natur.

Als physische Grundlage ihrer Heilwirkung ist bei der Schlehe ein auffälliger Prozess zu finden, dem sie ihren mandelartigen Geruch verdankt: die Biosynthese von sogenannten cyanogenen Glykosiden. Solche Blausäure-Verbindungen finden sich in vielfältiger Weise bei den Rosengewächsen und hier besonders beim Steinobst. Sie sind in der Alternativmedizin als Amygdalin oder „Vitamin B17“ bekannt geworden und können giftige Blausäure freisetzen. Ihretwegen werden mitunter bei Tumorerkrankungen Aprikosenkerne in übergroßen Mengen verzehrt, was in der Wirksamkeit umstritten und nicht ungefährlich ist. Auch bei der Bittermandel finden wir diesen sogenannten cyanogenen Zucker im Samen. Beim Schlehdorn sind diese Prozesse in die Blätter und die Blüten, welche einen deutlichen bitteren Geschmack haben, verlagert und nur in sehr niedrigen „homöopathischen“ Dosierungen zu finden, die nicht toxisch und lähmend wie höhere Blausäurekonzentrationen, sondern anregend auf die Lebensprozesse wirken. Doch nicht nur die Triebspitzen und Blüten sind außergewöhnlich.

Wer eine Schlehe mal vor dem herbstlichen ersten Frost genossen hat, wird ihr Wesen als Herbheit verstehen. Selbst Gaumen und Zunge benötigen einige Minuten, um sich von diesen sauren und zusammenziehenden Kräften zu lösen. Schlehenfrüchte sind so ziemlich die letzten Früchte, die es im Herbst zu ernten gilt, denn sie benötigen den Frost, um zu reifen. Die in der Fruchtreife ablaufende Zuckerbildung unterbleibt bei der Schlehe fast vollständig und erst der Frost hemmt die Gerbstoffe, gibt etwas Zucker frei. Wieder ist dieses eine merkwürdige Eigenart. Schlehenfrüchte sind Spätentwickler, faulen nicht durch die Kälte, ja entwickeln sich erst an ihr und bieten so auch im Winter den Vögeln eine wichtige Nahrungsquelle. Sie schenkt einer Jahreszeit des Todes und der Erstarrung noch ihre Früchte. So ist es richtig, dass die Schlehe in der Anthroposophischen Medizin nach einem Infekt regelmäßig empfohlen wird. Sie verbessert die Erschöpfung und selbst die oft parallel gehende Herzschwäche und Ängstlichkeit. Sie kann aber – wie oben gezeigt – noch mehr. Selbst schwere Erschöpfungszustände nach Covid-19 vermag sie zu heilen. Vielleicht wird dann der eine oder andere Patient an die berühmten Worte des Paulus in den Korintherbriefen erinnert: „O Tod, wo ist dein Sieg? O Tod, wo ist dein Stachel?“ (1. Kor. 15, 55) und vielleicht kann dann gerade bei ME/CFS nicht die permanente Skepsis, sondern ein Staunen über die Möglichkeiten der Anthroposophischen Medizin eintreten.

Möglichkeiten für die Selbstmedikation (Auswahl)*:

Skorodit Kreislauf Globuli velati (WALA) enthalten neben rhythmisierten und potenzierten Schlehen-Triebspitzen und -Blüten weitere den Kreislauf anregende und stabilisierende Natursubstanzen.**

Aurum/Prunus Globuli velati (WALA) enthalten neben Schlehen-Triebspitzen und -Blüten potenziertes Gold und haben sich bei Erschöpfungszuständen mit Rhythmusstörungen bewährt.**

Prunuseisen Globuli velati (WALA) enthalten Schlehen-Triebspitzen und -Blüten, die mit einem Eisenerz (Hämatit, Bluteisenstein) verrieben wurden. Sie dienen ebenfalls als Stärkungsmittel bei Erschöpfungen und der Regulation des nach Infektionen häufig gestörten Eisenstoffwechsels.**

Levico comp. Globuli velati (WALA) enthalten zusätzlich zum Prunuseisen noch das ebenfalls eisenreiche Levico-Heilwasser und Johanniskraut, welches das bei lang andauernden Erschöpfungen oft mit angegriffene Gemüt stärkt und aufhellt.**

Prunus Spinosa Summitates Urtinktur (Weleda) – eine vitalisierende Zubereitung aus den Triebspitzen der Schlehe.**

* Wichtig: Bei unklaren Erschöpfungszuständen muss unbedingt eine ärztliche Diagnosestellung und Beratung erfolgen!

** Dosierung jeweils für Erwachsene: 3 x täglich 10 Globuli bzw. Tropfen

Das Autoren-Duo dankt Herrn Prof. Dr. Ulrich Meyer herzlich für seinen inspirierenden Artikel Die Schlehe – Heilpflanze für Zeitgenossen (Der Merkurstab, 2011; 64 (2): 100–114), der maßgeblich dazu beigetragen hat, unser Verständnis dieser besonderen Heilpflanze zu vertiefen.

Johannes Wilkens und Frank Meyer sind anthroposophische Ärzte und Gesundheitsautoren. Gemeinsam haben sie Zeitschriftenbeiträge und Bücher veröffentlicht, geben Vorträge und Workshops.

Über den Autor / die Autorin

Gastautor