„Ich möchte tatsächlich mit meiner Arbeit das Programm der Romantik philosophisch fortsetzen.“ Mit diesem erstaunlichen Statement beschreibt der Philosoph Charles Taylor das Anliegen seines kürzlich erschienenen Buches Cosmic Connections: Poetry in the Age of Disenchantment (deutsch etwa Kosmische Verbundenheit: Poesie im Zeitalter der Entzauberung). Es ist ein bemerkenswertes Projekt, das einer der wirkmächtigsten Denker der Gegenwart 94-jährig und nach 30 Jahren Arbeit in die Öffentlichkeit bringt.
Taylor hat in den vergangenen Jahrzehnten den Diskurs über den Menschen und die Gesellschaft in der Moderne und Postmoderne immer wieder maßgeblich geprägt. Seine Themen waren die Entstehung des modernen Individualismus, der Prozess der Säkularisierung und die Entfremdung, zu denen beide Entwicklungen geführt haben. Bereits im Jahr 1983 legte er eine umfassende Darstellung zur Philosophie Hegels vor. Als Katholik plädiert er sowohl für ein neues Verständnis von Religion als auch für eine Offenheit in demokratischen Gesellschaften für den Wert und die Relevanz religiösen Lebens. Neben diesen philosophischen und religiösen Gedanken ist Taylor zudem ein ausdrücklich politischer Denker, der untersucht, wie ein Gemeinwesen gestaltet werden kann, das eine demokratische Kultur begründet. In Kanada, wo er lebt, hat er sich auch immer wieder politisch engagiert.
Schöpferische Sprache
In einem späten Hauptwerk, dem 2017 erschienenen The Language Animal (deutsch etwas sperrig übersetzt als Das sprachbegabte Tier), hat er sich dann mit der Bedeutung unserer Sprachbildung beschäftigt und sich dabei auf die Gedanken insbesondere von Wilhelm von Humboldt, Herder und Hamann bezogen. Seine These ist, dass wir durch Sprache nicht einfach die Dinge benennen, die wir in der Welt vorfinden, sondern sie durch Sprache immer auch mitgestalten: „Romantisch ist die Idee von einer Sprache, die aufgrund ihrer Doppelnatur zweierlei vermag: Sie kann die Dinge einfach nur instrumentell benennen, sie kann aber auch Bedeutungen in Worten entdecken und neu hervorbringen.“
Für Taylor ist eine Sprachform, die diese schöpferische Dimension unseres sprechenden Menschseins besonders betont und erforscht, die Poesie. Ihr widmet sich Taylor in Cosmic Connections.Seine Grundthese dabei ist, dass wir Zugänge zu Erfahrungen der Verbundenheit verloren haben. Solche Erfahrungen bringen uns aber erst in eine Beziehung mit der Welt, können uns das Gefühl von Zugehörigkeit und Verantwortlichkeit schenken, aus dem Sinnempfinden und ethisches Verhalten entstehen.
Um den poetischen Umgang mit Sprache zu verdeutlichen, bezieht sich Taylor unter anderem auf die Idee der Übersetzung, die der Philosoph und Mystiker Johann Georg Hamann geprägt hat. Goethe bezeichnete ihn als einen der „hellsten Köpfe“ und einen „Propheten“ seiner Zeit. Rudolf Steiner sagt über ihn in seinen Rätseln der Philosophie: „Ein mystisches Empfinden, oft mit pietistischer Färbung, lebt in seinen Orakelsprüchen. Chaotisch kommt in ihnen zum Vorschein das Drängen der Zeit nach dem Erleben einer Kraft der selbstbewussten Seele, welche Stützpunkt all dem sein kann, was der Mensch sich über Welt und Leben zur Vorstellung bringen will.“
In Hamanns Denken ist die gesamte Welt, Natur und Schöpfung eine Form von Mitteilung und in diesem Sinne eine Sprache. Darin ist Gott ein Dichtender und die Poesie Gottes zeigt sich in der Natur und der Geschichte. Taylor greift in seinen Überlegungen immer wieder auf einen Ausspruch von Hamann zurück: „Jede Erscheinung der Natur war ein Wort – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigeren Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, … war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort.“
Wir werden gerufen
Wenn die Schöpfung eine Mitteilung ist, dann ist es unsere Aufgabe, sie zu entschlüsseln. Das gelingt nicht direkt, sondern nur in der Übersetzung durch unser schöpferisches Antworten und Mitgestalten in Bildern und Symbolen eines bildhaften Denkens. In dieser Mitschöpfung des Übersetzens können wir eine „Epiphanie“ erleben, wie es Taylor nennt, die uns mit der Welt verbindet und uns ermutigt und ermächtigt, durch unseren kreativen Ausdruck an ihr teilzuhaben: „Eine Sprache der Epiphanien gibt uns das Empfinden, dass wir gerufen werden: Wir erhalten einen Ruf. Da ist etwas oder jemand, das uns anruft.“ Eine Form dieses Antwortens ist die Poesie.
Diese schöpferische Dimension der Sprache hat auch Rudolf Steiner bewegt, wenn er erklärt: „Denken Sie bei der Sprache zunächst einmal an die Dichtung. Sie haben von mir schon öfter erwähnt gefunden, wieviel der Mensch eines jeden Kulturgebietes, wenn er Dichter ist – und wer ist nicht ein bisschen Dichter –, eigentlich der Sprache verdankt. Viel mehr als man glaubt, schafft eigentlich die Sprache. Die Sprache enthält große, gewaltige Geheimnisse; der Sprachgenius ist etwas ungeheuer Schöpferisches.“
Im Zwischenraum
Taylor fasst die romantische Praxis der Verbundenheit in acht Punkten zusammen: (1) Die Natur ist nicht nur ein totes Gegenüber, das wir benutzen können, sondern ein lebendiger Organismus, mit dem wir verwoben sind. (2) Wir können mit dem Lebendigen kommunizieren, zum Beispiel durch die Kunst. Und diese lebendige Natur entfaltet sich (3) in einen schöpferischen, evolutionären Prozess. (4) So wie auch wir als Menschen, wir entfalten uns ebenfalls und sind nicht statisch. (5) Die Entfaltung der lebendigen Welt und des Menschen sind nicht getrennt. Durch unser schöpferisches Wirken gestalten wir an der Entfaltung der Welt mit. (6) In der Fähigkeit zum Gestalten findet der Mensch zu der Freiheit eines seiner selbst bewussten Ichs. (7) Deshalb ist es möglich, dass sich im Menschen die schöpferische Freiheit und die Verbundenheit mit dem sich entfaltenden Kosmos vereinen. (8) Aber diese Einheit wird nie erreicht werden, sie bleibt Ideal und Prozess. Hier bezieht sich Taylor auch auf die romantische Ironie, die sich der Vereinnahmung in einem neuen Dogma oder in einer Ideologie versagt. Die Resonanz dieses hier nur kurz skizzierten Prozesses zum Grundanliegen Rudolf Steiners, die Einheit des schöpferischen Menschen mit dem schöpferischen Kosmos erfahrbar und denkbar zu machen, scheint offenkundig.
In seinem Buch folgt Taylor der Spur der Poesie von Dichtern wie Hölderlin und Novalis über Shelley, Keats, Rilke, Wordsworth, Hopkins, Baudelaire, Mallarmé, T.S. Elliott bis hin zu Czeslaw Milosz im 20. Jahrhundert. Wichtig ist ihm dabei, dass die Poesie uns Erfahrungen der Verbundenheit eröffnet, die in einem „Interspace“, einem Zwischenraum zwischen dem Menschen und der lebendigen Welt möglich werden. Für Taylor ist dieser Interspace nahezu synonym mit der Resonanz, die der Soziologie Hartmut Rosa erforscht. Kein Wunder, dass Rosa und Taylor einander sehr schätzen und ihr Denken in enger Beziehung zueinander empfinden.
Wandel der Verbundenheit
Taylor betont, dass sich der Zugang zum Resonanzraum des Dazwischen der Verbundenheit in der Entfaltung der Kultur und damit auch der Poesie gewandelt hat. Er bezeichnet es als einen „epistemischen Rückzug“, in dem wir nicht so sehr vollständiges Verstehen und Wissen suchen, sondern auch Raum lassen für das Staunen, das Geheimnis und das, was wir nicht wissen. Die Romantik war ein erster Schritt in diesem Rückzug, weil die kosmische Verbundenheit nicht mehr in einer vorgegebenen kosmischen Ordnung gesucht wurde, sondern in einer übergreifenden Ordnung, die der Dichter selbst imaginiert, wie die „Götter“ bei Hölderlin oder eine „Kraft, die alle Dinge durchzieht“, bei Wordsworth.
Man kann diesen Rückzug so verstehen, dass die Erfahrung kosmischer Verbundenheit uns weiterhin erfüllt und berührt, aber wir weniger metaphysische Schlüsse daraus ziehen oder daraus Gewissheiten gewinnen wollen – egal, ob diese Gewissheiten aus religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Welterklärungen kommen. Der Zwischenraum für Staunen, Geheimnis, Ehrfurcht, Nichtwissen bleibt offen für das forschende Fragen. Dieser Zwischenraum ist auch der Lebensraum des Poetischen.
Der epistemische Rückzug setzte sich laut Taylor fort mit der Entdeckung der Evolution, in der sich Natur und Kosmos nicht als statisches, sondern als sich entfaltendes Ereignis zeigen. Dabei wird die Naturwissenschaft, verstanden im Sinne von Alexander von Humboldt und Goethe, zu einer Weise, diese sich entfaltende lebendige Welt zu erklären und sich mit ihr zu verbinden. Es ist eine „poetische Wissenschaft“, die zu den ökologischen Gedanken und dem Aktivismus von Henry Thoreau und John Muir führte, die sich für die Wiederverbindung mit dem Lebendigen und für den Schutz der Wildnis aussprachen. Diese Bewegung lebt weiter in der Tiefenökologie und der Wiederentdeckung indigenen Wissens fort, oder auch in der goetheanistischen Forschung – bis hin zum Nature Writing und neuen biologischen Erkenntnissen über Tiere, Pflanzen, Pilze und Ökosysteme, wie sie sich in Schriften von Robin Wall-Kimmerer, Andreas Weber, Merlin Sheldrake und anderen zeigen. In vielen dieser ökologischen Texte wird ausdrücklich von einer poetischen Wahrnehmung der Welt gesprochen. Poesie und Naturwissenschaft sind hier einander ergänzende, befruchtende Wege, um eine Verbundenheit in uns anzusprechen, die auch zu einem Wandel unseres Bezugs und unseres Verhaltens gegenüber der lebendigen Welt führt.
Zauber als Kraftquelle
Taylor als politischem Philosophen und Aktivisten geht es dabei nicht nur um eine individuelle Öffnung für Erfahrungen der „kosmischen Verbundenheit“. Für ihn enthalten die Erfahrungsräume unserer Ungetrenntheit von der Welt wichtige ethische Implikationen. Es kann unsere Beziehung zur lebendigen Welt verändern im Sinne eines ökologischen Bewusstseins. Zudem bedeutet kosmische Verbundenheit ein Erleben, das sich nicht auf ideologische Positionen bezieht. Taylor sieht darin etwas Verbindendes, über alle Unterschiede hinweg. Darin liegt für ihn auch eine Inspiration dafür, wie sich eine offene Gesellschaft trotz unterschiedlicher Sichtweisen und Lebensformen um eine gemeinsame Mitte finden kann.
Für Taylor ist eine Wiederverzauberung der Welt heute also eine kulturelle Notwendigkeit: „Den Zauber im Sinne von Magie und von Geisterglauben haben wir zum Glück durch die Aufklärung überwunden, darin stimmen sicher die meisten überein. Aber den Zauber im Sinne von lebendigen Bedeutungen und einem Gefühl kosmischer Verbundenheit vermissen wir. Dieser Zauber fehlt uns auch als Kraftquelle, um die Probleme unserer Zeit handelnd lösen zu können.“ ///
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Juli/August 2025.