Im anthroposophischen Umfeld begegnet man immer wieder Vertretern der krudesten Ideologien: Holocaustleugnung, Theorien der Verschwörung durch Juden, Jesuiten, Bilderberger oder Freimaurer, spirituell verbrämte Deutschtümelei und Bekämpfung des längst überholten Vorwurfs der deutschen Alleinschuld für den Ersten Weltkrieg, die „Chemtrail“-These und dergleichen mehr. Neuerdings finden hier teilweise auch Mutmaßungen über von Geheimdiensten inszenierte Terroranschläge und Annahmen über die Manipulation des politischen Lebens sowie der Medien durch geheime Zirkel starken Widerhall.
Gemeinsamer Nenner solchen Denkens ist die faszinierte Fixierung auf „das Böse“ und sein Wirken in der Welt sowie die Auffassung des Weltgeschehens als einem von einer kleinen Gruppe manipulierten Marionettentheater. Solche Ideologien sind mit der aufklärerischen und auf Freiheit ausgerichteten Anthroposophie nicht vereinbar, weder inhaltlich noch methodisch. Sie missbrauchen vielmehr einen Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen will für ihre eindimensionalen Welterklärungsmodelle.
Eine Fixierung auf das Wirken unheilvoller Mächte und vermeintliche Verschwörungen bewirkt eine passive Zuschauerhaltung, die dem Entwicklungsimpuls der Anthroposophie widerspricht. Dennoch treffen solche Ideen auf eine im anthroposophischen Umfeld offenbar ebenfalls vorhandene Tendenz zur Autoritätsgläubigkeit und zu anti-aufklärerischen Positionen. Man kann vielleicht einzelne pointierte Äußerungen Steiners im Sinne von Verschwörungstheorien vereinnahmen, sein Gesamtwerk aber ist eine erkenntnisbasierte Suchbewegung, die solche Simplifizierungen ausschließt.
Verschwörungstheoretische Weltbilder wirken sich verheerend aus, weil sie die fatalistische Grundstimmung verbreiten: Ich bin das blinde Opfer von okkulten Strippenziehern. Das steht im krassen Widerspruch auch zur Waldorfpädagogik, deren Anspruch es ist, junge Menschen anzuleiten, aus eigenen Beobachtungen, Nachforschungen und Sachkenntnis unbefangen ihre Urteile zu bilden. Ein apokalyptisches Grundgruseln, das die Komplexität der Welt auf die Machenschaften verborgener Mächte reduziert, hilft niemandem, eine solide Grundkenntnis der Funktionssysteme unserer modernen Gesellschaft aber durchaus.
Im 21. Jahrhundert zu leben heißt, am Entstehen des Wirklichen und Wahren teilhaben zu wollen und nichts ungeprüft gelten zu lassen. Heimat- und Haltlosigkeit ist der Preis dieser geistigen Souveränität und Freiheit. Doch es gibt einen verführerischen Halt: Was im 20. Jahrhundert die Ideologie war, das ist heute die „Stimmung“. Aus einer erstaunlich konstanten Gefühlslage wird über die Welt gedacht, empfunden und gehandelt – an die Stelle von Frage und Zweifel tritt etwas Absolutes: die empörte Grundstimmung (der oft Hochmut gegenübersteht). Es ist eine Empörung, die vermittelnde, merkurielle Organe angreift: Medien, internationale Institutionen und Rechtsorgane.
Anthroposophen haben in den zurückliegenden Jahren erfolgreiche Schritte getan, um aktiv an der offenen Gesellschaft mitzugestalten, in der wir leben: mit den vielfältigen Praxisfeldern, aber auch mit den Beiträgen der Anthroposophie als Weltanschauung selbst. Verschwörungstheorien vergiften das soziale Klima und bieten neo-autoritärem Populismus jeglicher Spielart einen Nährboden. Sie öffnen populistischen Positionen Tür und Tor und bedrohen die freiheitliche, offene Gesellschaft, in der zu leben wir als hohes Gut betrachten. Gerade wer einen tieferen Zugang zur Wirklichkeit sucht, darf auf solche Ablenkungsmanöver nicht hereinfallen.
Ramon Brüll, Info3 Verlag
Prof. Dr. Volker Frielingsdorf, Alanus Hochschule
Wolfgang Held, Goetheanum
Dr. Jens Heisterkamp, Zeitschrift Info3 und Info3 Verlag
Dr. David Marc Hoffmann, Rudolf Steiner Archiv
Laura Krautkrämer, Zeitschrift Info3
Henning Kullak-Ublick, Bund der Freien Waldorfschulen
Prof. Dr. Jost Schieren, Alanus Hochschule
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