„Spiritualität kann eine Ressource im Gesundheitswesen sein“

Eine Mutter legt einem kranken Kind die Hand auf die Stirn
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Im Gespräch mit dem Herdecker Professor David Martin geht es um die Frage unterschiedlicher geistiger Faktoren in der Medizin.

David Martin ist wohl einer der vielseitigsten Mediziner mit anthroposophischem Hintergrund. Durch Innovationen wie eine kürzlich vorgestellte Fieber-App wirkt er weit in das Gesundheitswesen hinein.

Interview: Jens Heisterkamp

David Martin, Sie haben sich in der Medizin vielfach mit Gebieten befasst, wo es um nicht allein physische Auswirkungen auf die Gesundheit geht, so zum Beispiel mit dem Einfluss von Musik auf die Gesundheit von Jugendlichen. Können Sie uns dazu etwas erzählen?
Es ging bei unserer Studie speziell um Jugendliche mit Diabetes. Die Doktorand:innen, Lena Marmulla, Elham Zamani und Franz Kettnacker, haben unter anderem untersucht, ob es einen Unterschied macht, wenn die Kinder ein Musikinstrument spielen. Und wir konnten tatsächlich anhand des sogenannten HbA1c-Wertes finden, dass diese Kinder eine deutlich bessere Einstellung ihres Diabetes hatten. Diese Studie ist auch mit einem Preis ausgezeichnet worden.

Wie erklären Sie sich diesen positiven Einfluss der Musik?
Ich habe selbst drei Kinder, die Musik studiert haben. Und ich habe gesehen, was Musik für das Thema Disziplin beiträgt, was sie für Geist, Herz und Gefühl bedeutet. Ein Instrument zu üben ist ein Rhythmisierungselement, es ist ein Willensstärke-Element und es schult die Intelligenz. Das ist inzwischen vielfach nachgewiesen.

Es hat eine große Bedeutung, wenn sich im Instrumentalunterricht einem Kind einmal in der Woche eine halbe bis eine dreiviertel Stunde lang ein Erwachsener ganz widmet. Dass sie sich die ganze Woche hindurch mit etwas beschäftigen, das mit Übung zu tun hat, das mit der Anwendung ganz verschiedener Formen von Intelligenz zu tun hat – das kann ein sehr wichtiges persönliches Coaching- und Selbstwirksamkeitsbefähigungsinstrument sein. Und das kann dann dem Umgang mit Diabetes auf ganz vielen Ebenen helfen: in Bezug auf die Disziplin, in Bezug auf die Merkfähigkeit, auf die Denkfähigkeit, auf den Rhythmus.

Man muss ja als Diabetiker ständig sozusagen seinen Blutzucker im Blick haben, man muss dran denken, man muss den Willen dazu haben, die Motivation dazu haben und ein feines Gefühl für sich selber entwickeln, so dass man auch merkt, wenn der Diabetes aus der Bahn gerät. Und dieses Gefühl wird feiner, wenn man Musik macht. Wir suchen derzeit einen Sponsor für eine randomisierte, kontrollierte Studie, in der wir Kindern aus sozial und finanziell wenig privilegierten Verhältnissen Musikunterricht anbieten können, um zu sehen, ob sich dieser Effekt bestätigt.

Gilt ein solcher positiver Effekt der Musik auch jenseits der Diabetes?
Die grundlegende Bedeutung von Musik für ein gesundes Leben ist schon lange nachgewiesen; praktizierende Musiker leben im Durchschnitt länger als andere und schon allein die Rezeption von Musik ist mit einer durchschnittlichen Verlängerung des Lebens um bis zu sechs Jahren verbunden. Eine entsprechende Studie wurde einmal im British Medical Journal publiziert. Musik hat in etwa die gleiche positive Wirksamkeit wie Joggen!

Also eine innere Aktivität wirkt auf das Physisch-Lebendige – da nähern wir uns dem Thema Spiritualität. Wie wäre eine direkte positive Beeinflussung der Lebensebene erklärbar?
Wir haben heute schon überall auf der Welt Menschen, die heilend mit Musik und Tönen arbeiten, therapeutisch, mit Klangschalen, mit der Stimme und mit ganz vielen verschiedenen Musikinstrumenten. Wir haben auch beispielsweise in der Klinik Filderstadt Klangbetten, auf denen man liegen und mit dem ganzen Körper Klänge spüren kann. Und es gibt sehr, sehr viele Menschen, die dafür hoch empfindsam sind. Aber es ist für mich auch aus persönlicher Erfahrung und Erfahrung mit Patienten ohne Zweifel, dass nicht nur die musikalische Aktivität, das musikalische In-sich-Hineinhören, das Musikalische In-Beziehung-kommen eine Wirksamkeit hat, sondern dass die Töne auch selber ins Leibliche direkt wirken.

Gibt es zu diesem Bereich auch Studien?
Ja, man hat beispielsweise die Wirkung von Musik bei Neugeborenen untersucht und wir haben tatsächlich ganz klare Nachweise für die Wirksamkeit der Töne und des Rhythmus auf die Physiologie. Ähnliche Untersuchungen gibt es bei komatösen Patienten. Auch hier muss man von einer unmittelbar physiologischen Wirkung der Klänge sprechen.

Ein weiteres Thema, mit dem Sie sich beschäftigen: Sie haben mit Ihrem Team eine Fieber-App (zu finden unter FeverApp) entwickelt und in der Praxis zeigen können, wie sich bei einem bewussteren Umgang mit Fieber der Einsatz von Antipyretika und Antibiotika verringern lässt. Wie kam es zu diesem Projekt?
Ich verstehe mich zuallererst als sogenannter Schulmediziner und bin als solcher sehr dankbar, dass wir diese Medikamente haben. Zugleich habe ich von der naturheilkundlichen und der Anthroposophischen Medizin gelernt, dass wir diese Mittel viel seltener brauchen als vielfach angenommen, vor allem wenn wir Fieber als etwas verstehen, was das Immunsystem unterstützt. Etliche Tierversuche zeigen, dass der Verlauf einer Erkrankung besser ist, wenn man das Fieber nicht senkt. Für Menschen ist die Datenlage allerdings recht dünn. Viele Kinder, die aus Familien kommen, die Fieber zugelassen haben, können von ähnlichen Erfahrungen berichten.

Ich vergleiche gern Fieber mit dem Bergsteigen: Beides kann teilweise auch ein bisschen unangenehm sein. Bei beiden Aktivitäten haben wir eine Erhöhung der Körpertemperatur, bei angestrengtem Bergsteigen bin ich schnell bei 39 Grad. Auch beim Marathonlauf haben wir 39 Grad. Und während wir jetzt hier sprechen, beträgt die Temperatur in unserem Gehirn über 39 Grad, morgens ist sie sogar höher. Da, wo unser Körper sozusagen eine gemütliche Mitte hat, sind wir bei 36, 37 Grad. Das heißt, diese erhöhte Temperatur ist nicht etwas, was man ewig aufrechterhalten will, sondern wir brauchen danach immer Pausen und Entspannungsphasen. Und so verläuft auch Fieber. Am sehr frühen Morgen geht es normalerweise runter. Wenn es nicht runtergeht, ist es ein Warnzeichen: Also Fieber über 40 Grad zwischen vier und sieben Uhr morgens wäre ein ernstes Warnzeichen.

Sie würden also sagen, dass man Fieber in einer überschaubaren Weise positiv nutzen kann?
Ja, und deshalb war unsere Aufgabe: Wie kann man vermitteln, dass Fieber nicht unbedingt gesenkt werden muss? Und wodurch kann ich wissen, dass ich zum Arzt oder zur Ärztin muss, wann muss ich etwas unternehmen? Alle Untersuchungen zum Thema Fieber zeigen, dass das Fieber ein uralter Mechanismus ist, der sehr, sehr gut unsere Körpertemperatur reguliert. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung haben wir dann eine neuartige Fieber-App, die FeverApp, entwickelt, die insbesondere jungen Eltern helfen kann, Fiebersituationen bei ihren Kindern gut einzuschätzen. Unsere Erfahrungen damit sind dann auch in die Fieber-Leitlinie beim Gemeinsamen Bundesausschusses eingeflossen, die ich mit elf anderen Fachgesellschaften gerade dabei bin zu finalisieren.

Tatsächlich gibt es ja oftmals eine große Verunsicherung gerade bei jungen Eltern. Nicht selten sucht man, wenn der oder die Kleine mal zwei Tage 39 Grad hat, gleich die Notaufnahmen auf.
Ja, fast alle Praxen und Notaufnahmen stellen eine Zunahme der Unsicherheit fest. Warum ist das so? Man könnte denken, dass es umgekehrt sein müsste, denn heute steht viel mehr Information zur Verfügung. Nur hat man früher vielleicht eher mal die Großeltern gefragt, die konnten das kontextualisieren. Und jetzt fragt man Google und Co., und die digitalen Medien haben ja die Eigenschaft, dass die schlimmsten Sachen zuerst kommen.

Aber man hat diese Geräte eben immer zur Hand, deshalb wollen auch wir da präsent sein, und unsere FeverApp steigert sowohl gefühlte Sicherheit als auch die tatsächliche Sicherheit im Umgang mit Fieber. Das ist der Sinn dieser App.

Sie versuchen also, Fieber nicht grundsätzlich zu vermeiden, sondern dem Durchmachen von Fieber einen positiven Sinn abzugewinnen. Das wird ja manchmal in den Medien verkürzt in der Formel, die Anthroposophische Medizin folge dem Grundsatz, was uns nicht umbringt, macht uns härter. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Diesen Satz habe ich zum ersten Mal im Studium gehört. Und dieser Satz fühlte sich schon damals für mich nicht heilsam an. Ich will doch als Mensch nicht hart werden, ich will nicht abgehärtet sein. Im Gegenteil: Alle unsere Daten zum Thema Gesundheit deuten darauf hin, dass es um eine Agilität und Flexibilität des Körpers geht und nicht um Abhärtung. Die Herzfrequenzvariabilität zum Beispiel ist ein Zeichen von Gesundheit, nicht die abgehärtete Starrheit der Herzfrequenz. Also diesen Satz, durch Krankheiten sich abzuhärten, den finde ich absolut nicht inadäquat.

Was findet denn aus Ihrer Sicht statt, wenn man eine fieberhafte Erkrankung durchläuft?
Es gibt eine Hypothese, die noch viel genauer untersucht werden muss: Als Kind nimmt man zunächst das, was man zur Verfügung hat: den vererbten Körper mit seiner Genetik. Der Mensch ist aber mehr als nur diese Genetik, man gestaltet sich den Körper entsprechend seiner Persönlichkeit. Das ist eine Hypothese, die in der gegenwärtigen Schulmedizin wenig bewegt wird. Diese Hypothese beinhaltet einen expliziten Begriff von Seele und Geist und einer Persönlichkeit, die sozusagen eine vorgeburtliche Wirklichkeit hatte und die dementsprechend mit dem, was sie körperlich von den Eltern bekommt, etwas machen will, was mehr ist, als nur die Eltern nachzumachen. Wenn man diesen Begriff entwickelt, dann kann alles, was geschieht, als Gelegenheit gesehen werden, sich selbst dem eigenen Geist näher zu bringen, und auch eine Erkrankung kann potenziell so gesehen werden.

Das heißt aber nicht, dass man Leid oder Gefahren einfach hinnehmen soll. Es sollten durchaus auch fiebersenkende Mittel gebraucht werden um Leid zu reduzieren, wenn ein Kind leidet, und natürlich auch Antibiotika bei gefährlichen bakteriellen Infekten, die man nicht anders in den Griff bekommt. Aber es ist eben ein Unterschied, ob Eltern sich fragen: „Wofür könnte eine Fiebererkrankung jetzt gut sein? Ich werde das Kind so liebevoll und sicher begleiten, wie es überhaupt geht und dann schauen, was macht das Kind daraus?“ Und anders wird es sein, wenn Eltern sagen: „Oh, was für ein Pech, warum nur ist das Kind krank? Ich muss das sofort alles unterdrücken.“ Das ist natürlich für das Kind dann sehr unterschiedlich. Und unsere Aufgabe liegt darin, das einfach nüchtern und wissenschaftlich zu untersuchen. Wir setzen nicht voraus, dass das eine richtig und das andere falsch ist, sondern wir fragen sozusagen aus der Public-Health-Perspektive, wie wirkt sich das eine und wie wirkt sich das andere aus?

Kinder dürfen aber auch nicht zur Experimentierfläche werden, oder?
Nein, ich sehe die reale Gefahr, dass manche Eltern ideologisch werden in Bezug auf Erkrankungen und dass sie Gefahren in Kauf nehmen für das Kind. Es gibt Situationen, in denen ich von schulmedizinischen Kollegen gerufen wurde mit der Frage: Kannst du mit diesen Eltern sprechen? Die sind so naturheilkundlich-ideologisch, dass es ein Risiko für das Kind gibt. Und zum Glück haben wir inzwischen mit sehr vielen Kollegen eine so gute Zusammenarbeit, dass das möglich ist. Und ich verstehe da auch die teils allergischen Reaktionen dieser Kolleginnen und Kollegen gegenüber Anthroposophie oder Naturheilkunde, wenn sie mit solchen Eltern, die zum Glück selten sind, konfrontiert werden.

Hat sich aus Ihrer Sicht die Situation in der Medizin bezüglich geistiger Einflüsse eher verhärtet oder sehen Sie da auch Veränderungen?
Ich erwarte in den nächsten 20, 30 Jahren tatsächlich einen Paradigmenwechsel in Bezug darauf, wie wir über Materie denken. Zurzeit ist noch die Art, wie wir über Materie denken so, dass die Wissenschaft sowohl für Spiritualität als auch für Homöopathie eher verschlossen ist. Aber unsere reale Erfahrung ist bereits anders. Und unsere wissenschaftlichen Befunde sind auch anders.

Wir können beispielsweise ganz nüchtern sagen, dass Patienten, die Homöopathie in Anspruch nehmen, die Antibiotikaresistenz reduzieren, sie reduzieren auch den Gebrauch von Antidepressiva und vieles andere. Allein die Tatsache, dass die Eltern eines Kindes sagen: „Spiritualität ist für mich von Bedeutung in meinem Leben“, hat zur Folge, dass deren Kinder eine weniger hohe Wahrscheinlichkeit haben, eine Depression zu erleiden. Das ist nachgewiesen. Also ich würde sagen, wir sind dabei zu erforschen, welche enorme Ressource die Spiritualität im Gesundheitssystem sein kann und wie wir diese Ressource noch lange nicht ausgeschöpft haben. ///

Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift info3, Mai 2025.